Mittwoch, 26. Mai 2010

Bilal das Kind





Bilal ist ältestes Kind der freundlichen Familie, die unsere Gruppe ganz uneigennützig und ohne uns zu kennen zum Abendessen eingeladen hat. Er lebt mit seinen Eltern und seinen zwei jüngeren Schwestern in einem Hochhaus mit neun Geschossen und 36 Wohnungen im Stadtteil Ümraniye auf der asiatischen Seite. Bilal ist elf Jahre alt und besucht die sechste Klasse der Grundschule. In zwei Jahren will er zum Gymnasium wechseln (hier in der Türkei bleiben die Kinder acht Jahre in einer gemeinsamen Grundschule zusammen), nach weiteren vier Jahren soll er dann Abitur haben, inschallah. Ich mache mir um diesen klugen und ernsten jungen Mann diesbezüglich keine Sorgen.

Bilal lernt im dritten Jahr Englisch und im ersten Jahr Deutsch, das er einfacher findet und mehr liebt als Englisch. Die Mutter winkt ab, das sei ein Problem des ögretmen, des Lehrers. Den Deutschlehrer findet er sympathischer, deshalb hat er zum Deutschen einen besseren Zugang. So also können im Leben die Weichen für Zu- und Abneigung gegenüber ganzen Nationen gestellt werden...

Bilal spricht beide Sprachen so, als ob, um ein Wort meines Vaters aus dessen eigenem Erleben zu benutzen, die Lehrer die Sprachen erfunden hätten, um Kinder damit zu quälen. Offenbar sind sie reine theoretische Gebilde für ihn. Erst später am Abend taut Bilal etwas auf, und beginnt Englisch als etwas zu benutzen, das ihn und mich verbindet (wobei ich versuche, mit meinem rudimentären Türkisch Hilfestellung zu geben). Wie so oft bildet der Fußball die Brücke, die Welten verbindet. "World Champion, Football, Africa?" - "Germany: no, Spain: yes!" Der Junge hat leider Sachverstand...

Der Vater ist Chemiker und Eigentümer einer Firma, die im Baugewerbe tätig ist. Er ist seit vielen Jahren Anhänger der Gülen-Bewegung, hat seine Freunde dort, mit denen er sich wöchentlich zu einer Art Hauskreis, Sohbet, trifft, Reisen unternimmt und unter armen Leuten Gutes tut. Er ist über den wirtschaftlichen Aufschwung um ihn herum weder besonders stolz noch verbindet er weltpolitische Gedanken mit dem zunehmenden Gewicht der Türkei. Geschäfte mit dem Ausland? Seine Arbeit ist hier vor Ort. Allerdings berichten ihm seine Freunde von wachsendem Interesse an Afrika, das die früher einseitige Orientierung nach Europa aufzuweichen beginnt. Ob sein Sohn nicht besser etwas Anderes lernen soll als Englisch und Deutsch? Nach längerem Überlegen sagt er, vielleicht wird Russisch und Chinesisch in Zukunft interessanter. Arabisch? hake ich nach. Das wohl eher als Sprache für die Pilgerfahrt.

Das Foto oben zeigt Bilal mit seinen Schwestern Betül, 7 und Rana, 9 Monate.

Am Ende übergeben wir ein schönes Solinger Nageletui als Gastgeschenk. Wir bekommen nach türkische Sitte eine Dose mit Süßigkeiten auf den Weg, der Gast ist nicht nur zu bewirten, sondern auch durch Geschenke zu ehren. Im Herausgehen kommt Bilal noch einmal zu mir und hat eine kleine mittelalterliche Kanone als Schüsselanhänger in der Hand. Çok güzel, sehr schön, sage ich, aber seine Handbewegung sagt: es ist sein zusätzliches Gastgeschenk an mich. Gerührt verlasse ich das freundliche Haus.



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