Auf der Istiklal Caddesi, der großen Einkaufsstraße im alten Pera, dem nördlichen, vor 1453 von den Genuesern bewohnten Teil Istanbuls, ist im Riesenstrom der Menschen eine bestimmte Art von Künstlern wie auf kleinen Inseln zu finden, die man auch aus den Fußgängerzonen anderer europäischer Großstädte kennt. Die Indios aus Bolivien singen wie in Düsseldorf El Condor pasa, eine Violinistin spielt wie in Amsterdam Mozart, ein Sas-Spieler ergänzt die Weltmusik mit einheimischen Klängen. Als akkustischer Höhepunkt läßt eine füllige Russin, die für mich Tante Olga heißt und eine große Opernstimme hat, die bekannten Lieder von Kalinka bis Stanka Rasin weithin hörbar erschallen.
Warum erinnert mich ihr zweifellos in vollkommenem Russisch vorgetragener Gesang an die Abende mit meiner Schwester Esther, bei denen wir die alten Lieder sangen und wo wir Esther auf dem Höhepunkt der Nostalgie, bei Those were the days my friend, niemals lange bitten mußten, bis sie eine Strophe in ihrem selbst erfundenen Russisch sang? Ich glaube, es waren die operettenhaften Bewegungen von Tante Olga, die meine Schwester in gleicher Weise imitieren kann, die roten Haare, die - Esther, verzeih den völlig unangemessenen Vergleich! - überschüssigen Pfunde.
Die Türken standen eher erstaunt vor diesem akkustischen Vulkan, der ihre sensiblen Ohren sicherlich überforderte, und warfen schüchtern ihre Münzen in den bereitgestellten Korb, gerade so, als ob man dadurch Schlimmeres verhüten könnte.
Ich rief Esther an und ließ sie ein paar Takte teilhaben am strahlenden Gesang ihrer Kollegin. Esthers Lachen übertönte in meinem Ohr alles, was von der lauten Tante Olga auf der Istiklal Caddesi zu hören war.
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