Mittwoch, 28. August 2013

Türkische Gespräche (I)


 


Uçhisar, Kappadokien




Blick aus unserem Fenster in der Morgenröte:
der Vulkan Erciyes, 3.916 m hoch, etwa 70 km entfernt.

Uğur* ist 18jährig mit einem kleinen Koffer mutterseelenallein nach Essen gezogen und hat dort 22 Jahre als Schreiner gearbeitet. Er hat einen deutschen Meisterbrief und ist seit zwei Jahren wieder am Heimatort zurück, hier als selbständiger Schreiner mit 10 Mitarbeitern. Ich frage ihn, was ich alle Türken frage, mit denen ich länger rede: ob die Türkei nach den Unruhen der letzten Monate wieder zu einem inneren Frieden finden wird.



Uğur ist sich nicht sicher. Er hat Erdoğan gewählt und wird ihn erneut wählen, aber dessen restriktiven Maßnahmen gegen  den Verkauf von Alkohol und sein Reden von drei oder mehr Pflichtkindern mag Uğur nicht besonders, er trinkt einen kappadokischen Wein mit uns und ist mit seinen nur zwei Kindern mehr als zufrieden. Beide hat er mit der Mutter in Deutschland gelassen, damit sie dort die Schule beenden können.

Uğur kritisiert im Zusammenhang mit den Alkoholgesetzen,  dass die Regierung auch die Bordelle in den größeren Städten der Gegend geschlossen hat. Die "Nataschas" aus der Ukraine oder anderen nördlichen Ländern arbeiten jetzt illegal. Wer kontrolliert die Ausbreitung von Geschlechtskrankheiten? fragt Uğur.

Er ist in einer dieser Städte zu einer Parteiversammlung von Erdoğans AKP gegangen und hat das Problem der illegalen Prostitution dort angesprochen. Vorne am Pult wurde alles notiert. Ankara ist informiert, Ankara wird überlegen und etwas tun.

Nach Uğurs Eindruck weiss Erdoğan alles. Er flicht auch gerne in seine Reden Worte wie „ich weiß genau was ihr macht!“ und lacht dabei.

Überhaupt seine Reden – Uğur muss häufig weinen, wenn er Erdoğan reden hört. Auch sein Vater, der die nationalkonservativen Leute der MHP wählt, versäumt keine einzige Rede Erdoğans am Fernsehen. Erdoğan wird es richten, Erdoğan wird die vernünftigen Wege finden. Aber ganz zufrieden mit ihm ist Uğur nicht.  

Auch den 71-jährigen Bauern Metin*, der früher einmal Oberhaupt seines Dorfes war, frage ich nach dem Frieden in der Türkei. Ich komme auf der Hochzeit neben ihn zu sitzen, und mein Freund Nureddin ist so freundlich, mir alle seine Worte zu übersetzen. Der Bauer Metin hat eine eigenartige Theorie: es wird so lange keinen Frieden geben, wie bestimmte Leute heimlich in alle möglichen Organisationen der Türkei eindringen und dort stören. Ich verstehe, dass er über „Ermeni“, Armenier  spricht und frage Nureddin  danach. Nein, er meint nicht wirklich Armenier, er meint das Wort „Ermeni“ als generelles Schimpfwort für Verräter. Als dann allerdings im zweiten Satz erneut das Wort „Ermeni“  fällt, fragt Nureddin nach und korrigiert sich sann. Der alte Bauer meint tatsächlich die Armenier.

Nach seiner Annahme, die auch Nureddin verblüfft, sind die Armenier im Jahr 1915 nicht umgekommen, sondern haben auf den Todesmärschen vielfach flüchten und Unterschlupf in fremden Dörfern und Städten finden können. Sie haben dort ihren christlichen Glauben gewechselt und sind später unter neuer Identität als Aleviten oder Kurden wieder in die Gesellschaft zurückgekehrt. Sie werden niemals Ruhe geben, bis sie sich gerächt haben, sagt Metin.

Der alte Bauer hat als junger Mann eine Zeit lang als LKW-Fahrer sein Geld, verdient und ist viel im Land unterwegs gewesen. Er war auch in Tunceli, einer Stadt, die bei der kurdischen Bevölkerung heute noch „Dersim“ heißt und in der es 1937 einen Aufstand gegen die türkische Regierung und in der Folge ein großes Massaker an den dortigen, vielfach alevitischen Kurden gab. Metin hat in einem Kaffeehaus mitgehört, wie der Besitzer wüst über zwei sein Haus betretende türkische Polizisten sprach. Eines Tages würden auch sie, die Vertreter des verhassten Staates,  daran glauben müssen, sagte der Kaffeehausbesitzer und machte mit dem Zeigefinger die Bewegung eines den Hals abschneidenden Messers. Nein, solange Leute noch eine alte Rache zu begleichen haben, wird es keinen Frieden geben.

Ich frage Metin nach den Deutschen und den Juden. Ja, sagt er, auch für sie gilt: es wird noch eine Rache geben. Später erzähle ich ihm von den ersten Nachkriegsbesuchen meines 1920 geborenen Vaters bei den Franzosen. In der Schule hatte er gelernt, dass Franzosen die Erzfeinde der Deutschen seien. Bei seinem Besuch 1955 fand er sie überraschend sympathisch und schloss mit einer Reihe von ihnen Freundschaft.

Der alte Bauer hört der Übersetzung meiner Worte zu, nickt und schaut in die Ferne. Ganz überzeugt habe ich ihn offenbar nicht.

* ich habe Namen und Orte verändert

 

 

 





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