Uçhisar,
Kappadokien
Blick aus unserem Fenster in der Morgenröte: der Vulkan Erciyes, 3.916 m hoch, etwa 70 km entfernt. |
Uğur* ist 18jährig mit einem kleinen Koffer mutterseelenallein nach Essen gezogen und hat dort 22 Jahre als Schreiner gearbeitet. Er hat einen deutschen Meisterbrief und ist seit zwei Jahren wieder am Heimatort zurück, hier als selbständiger Schreiner mit 10 Mitarbeitern. Ich frage ihn, was ich alle Türken frage, mit denen ich länger rede: ob die Türkei nach den Unruhen der letzten Monate wieder zu einem inneren Frieden finden wird.
Uğur ist
sich nicht sicher. Er hat Erdoğan gewählt und wird ihn erneut wählen, aber
dessen restriktiven Maßnahmen gegen den Verkauf von Alkohol und sein
Reden von drei oder mehr Pflichtkindern mag Uğur nicht besonders, er trinkt
einen kappadokischen Wein mit uns und ist mit seinen nur zwei Kindern mehr als
zufrieden. Beide hat er mit der Mutter in Deutschland gelassen, damit sie dort
die Schule beenden können.
Uğur
kritisiert im Zusammenhang mit den Alkoholgesetzen, dass die Regierung
auch die Bordelle in den größeren Städten der Gegend geschlossen hat. Die
"Nataschas" aus der Ukraine oder anderen nördlichen Ländern arbeiten
jetzt illegal. Wer kontrolliert die Ausbreitung von Geschlechtskrankheiten?
fragt Uğur.
Er ist in
einer dieser Städte zu einer Parteiversammlung von Erdoğans AKP gegangen und
hat das Problem der illegalen Prostitution dort angesprochen. Vorne am Pult
wurde alles notiert. Ankara ist informiert, Ankara wird überlegen und etwas
tun.
Nach Uğurs
Eindruck weiss Erdoğan alles. Er flicht auch gerne in seine Reden Worte wie
„ich weiß genau was ihr macht!“ und lacht dabei.
Überhaupt
seine Reden – Uğur muss häufig weinen, wenn er Erdoğan reden hört. Auch sein
Vater, der die nationalkonservativen Leute der MHP wählt, versäumt keine
einzige Rede Erdoğans am Fernsehen. Erdoğan wird es richten, Erdoğan wird die
vernünftigen Wege finden. Aber ganz zufrieden mit ihm ist Uğur
nicht.
Auch den
71-jährigen Bauern Metin*, der früher einmal Oberhaupt seines Dorfes war, frage
ich nach dem Frieden in der Türkei. Ich komme auf der Hochzeit neben ihn zu
sitzen, und mein Freund Nureddin ist so freundlich, mir alle seine Worte zu
übersetzen. Der Bauer Metin hat eine eigenartige Theorie: es wird so lange
keinen Frieden geben, wie bestimmte Leute heimlich in alle möglichen
Organisationen der Türkei eindringen und dort stören. Ich verstehe, dass er
über „Ermeni“, Armenier spricht und frage Nureddin danach. Nein, er
meint nicht wirklich Armenier, er meint das Wort „Ermeni“ als generelles
Schimpfwort für Verräter. Als dann allerdings im zweiten Satz erneut das Wort
„Ermeni“ fällt, fragt Nureddin nach und korrigiert sich sann. Der alte
Bauer meint tatsächlich die Armenier.
Nach seiner
Annahme, die auch Nureddin verblüfft, sind die Armenier im Jahr 1915 nicht
umgekommen, sondern haben auf den Todesmärschen vielfach flüchten und
Unterschlupf in fremden Dörfern und Städten finden können. Sie haben dort ihren
christlichen Glauben gewechselt und sind später unter neuer Identität als
Aleviten oder Kurden wieder in die Gesellschaft zurückgekehrt. Sie werden
niemals Ruhe geben, bis sie sich gerächt haben, sagt Metin.
Der alte
Bauer hat als junger Mann eine Zeit lang als LKW-Fahrer sein Geld, verdient und
ist viel im Land unterwegs gewesen. Er war auch in Tunceli, einer Stadt, die
bei der kurdischen Bevölkerung heute noch „Dersim“ heißt und in der es 1937
einen Aufstand gegen die türkische Regierung und in der Folge ein großes Massaker
an den dortigen, vielfach alevitischen Kurden gab. Metin hat in einem
Kaffeehaus mitgehört, wie der Besitzer wüst über zwei sein Haus betretende
türkische Polizisten sprach. Eines Tages würden auch sie, die Vertreter des
verhassten Staates, daran glauben müssen, sagte der Kaffeehausbesitzer
und machte mit dem Zeigefinger die Bewegung eines den Hals abschneidenden
Messers. Nein, solange Leute noch eine alte Rache zu begleichen haben, wird es
keinen Frieden geben.
Ich frage
Metin nach den Deutschen und den Juden. Ja, sagt er, auch für sie gilt: es wird
noch eine Rache geben. Später erzähle ich ihm von den ersten Nachkriegsbesuchen
meines 1920 geborenen Vaters bei den Franzosen. In der Schule hatte er gelernt,
dass Franzosen die Erzfeinde der Deutschen seien. Bei seinem Besuch 1955 fand
er sie überraschend sympathisch und schloss mit einer Reihe von ihnen
Freundschaft.
Der alte
Bauer hört der Übersetzung meiner Worte zu, nickt und schaut in die Ferne. Ganz
überzeugt habe ich ihn offenbar nicht.
* ich habe
Namen und Orte verändert
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