Donnerstag, 15. September 2016

Wanderungen in der Mark Brandenburg (VI): Berlin als Endziel?

Unser Urlaub hier im Havelland in der Nähe von Berlin sollte hauptsächlich dazu dienen, unsere vier in Berlin lebenden Kinder, deren Partner und die vier Enkelkinder noch einmal lange und ausgiebig sehen zu können. Das ist auf wunderbare Weise gelungen, bei bestem Wetter. Wir sind wieder zu Hause in Remscheid und blicken auf viele schöne Tage zurück.

So ein bisschen stand bei unserer Reise aber zweitens auch die Frage im Hintergrund, ob wir uns nach unserem Eintritt ins Rentnerleben auch in Berlin oder im Umland niederlassen könnten. Diese Frage ist nicht so ganz leicht zu beantworten.

Warum leben Menschen an dem Ort, an dem sie leben? Obwohl ich beruflich immer mit Immobilien zu tun gehabt habe, habe ich keine befriedigende Antwort auf diese Frage bekommen. Auch meine Gespräche mit Migranten mit ihren oft dramatischen Ortswechseln haben mir nicht sehr viel weitergeholfen. Warum ist mein Urgroßvater um das Jahr 1880 herum aus dem Oberbergischen nach Barmen gezogen, zu Fuß und weitestgehend in ungesicherte, ja zunächst ärmliche Verhältnisse hinein?

Aus welchen Gründen habe ich in meinen 43 Ehejahre in den zwei Häusern in Vorst bei Krefeld und in Remscheid gelebt, die mir von meiner Familie und dem Familienunternehmen zur Verfügung gestellt wurden? Sie haben mir gefallen, gewiss. Aber hätte ich mir die Orte, die Straßen auch selbst ausgesucht? Ich weiß es nicht.

Manchmal denke ich, die meisten modernen Menschen sind überall da weitestgehend zufrieden, wo sie ein vernünftiges Internet bekommen können. Das trifft mittlerweile auf fast alle Orte in Deutschland zu. Vielleicht möchte man noch ein gutes Krankenhaus in der Nähe haben und Schulen für die Kinder. Arbeitsplätze natürlich auch.

Nichts von diesen Faktoren würde für einen Wechsel nach Berlin sprechen. Selbst wenn man kulturelle Angebote hinzunimmt, so sind alle Menschen, die wie ich im Großraum Köln leben, nicht viel schlechter gestellt als die Berliner.

Dafür müssen diese vielfach mit stickigen Häuserzeilen vorlieb nehmen, die sich oft in drei Reihen hintereinander an den Straßen entlang staffeln. Sie zahlen für Wohnungen ohne Balkone und mit der eingeschränkten Wohnqualität eines Altbaus so viel wie ein Remscheider für ein Häuschen mit Garten. Die sommerliche Hitze, die wir in den letzten Tagen erleben konnten, sind sie vielfach schutzlos ausgeliefert.

Und trotzdem geht von der großen Stadt Berlin eine Faszination aus. Woraus speist sie sich?

Vor wenigen Tagen las ich in der New York Times die Gedanken eines alternden Mannes ("For a Long Life, Retire to Manhattan"), der jetzt, wo sein aktives Berufsleben endet, in die Millionenstadt ziehen will, nach Manhattan. Er sagt dazu sehr bewusst: er weiß, dass es seine letzten Lebensjahre sind, die er hier verbringen will. Er will die Anonymität genießen, welche ihm die große Stadt bietet, er sucht sie geradezu. Und er hat einen fatal klingenden, aber doch bedenkenswerten Grund.

Er sagt es sehr direkt: Die Anonymität des Großstadtlebens macht dich bereit für die Anonymität des Grabes. Der Gedanke hat mir sofort eingeleuchtet. Wer die Anonymität des Großstadtlebens überwindet, kann in ihr zu Hause sein. Wer das Anfangsgefühl hinter sich lässt, in den permanent gegenwärtigen Riesenmengen von Mietern, Verkehrsteilnehmern, Konzertbesuchern nicht derjenige zu sein, der hier eigentlich einer zu viel ist, wer versteht, dass hier eigentlich  a l l e  zu viel sind - der kann tatsächlich eines Tages ohne die Furcht sterben, eine Lücke zu hinterlassen. Und so zieht man sich also in die große graue Anonymität zurück, macht fröhlich einer Reihe von zufälligen aber nichtssagenden Bekanntschaften und wartet auf den Tod.

Mein christliches Herz gibt sich einen Ruck und weiß auf einmal ganz sicher: nein, dann sterbe ich lieber im Kreis von Menschen, die gemeinsam mit mir auf ein ewiges Leben hoffen. Das Grab ist kein Rückzug in die Anonymität, es ist die Rückkehr in den Kreislauf von Vergänglichkeit und Auferstehung, das Bett im Gottesacker.

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