Dienstag, 20. September 2016

Kathedralen der Neuzeit


Aus der seligen Zeit, in der Robert Gernhardt und F.K.Waechter noch ihre Karikaturen, Reime und Geschichten veröffentlichten, ist mir eine „Legende“ in Erinnerung, die in etwa wie folgt erzählt wird: die englische Königin Victoria habe sich einmal während einer Jagd tief im Unterholz verirrt, wo ihr ein besonders großer Hirsch mit einem goldenen Kreuz im Geweih erschienen sei Der habe ihr den Rückweg gewiesen. Die vollkommen ergriffene Königin gelobte sogleich, an dieser Stelle  einen Bahnhof zu bauen. So kam es zum Bau der Victoria Station.



An diese frei erfundene Geschichte musste ich denken, als wir am vergangenen Wochenende spät abends bei starkem Regen auf der Suche nach unserem Hotel in Mannheim ankamen. Wir waren zuvor auf einer Hochzeit in der Pfalz gewesen und hatten in Mannheim eine Übernachtung gebucht. Unser Navi führte uns durch eine Reihe von Seitenstraßen, bis wir plötzlich vor einem großen, hell angestrahlten Prachtgebäude standen, das ich anfangs für eine Art von Tempel, ein Pantheon hielt. Das Gebäude war umrandet von einem weitläufigen Park mit vielen Springbrunnen und vornehmen, im Kreis um den Park herum stehenden Häusern.

Im Hotel angekommen las ich dann, dass es sich um den Friedrichsplatz handelt, auf dem als zentrales Monument – ein Wasserturm steht, aus dem Jahre 1889. Dieser Bau (der auch später bei Tageslicht immer noch fast sakral wirkte) und auch seine Umgebung, die von den Planern als einer der schönsten Plätze der Welt angelegt worden war, erinnerte mich in seiner visionären Entstehung an die falsche Legende von der Victoria Station.

In Mannheim hatte man um das Jahr 1870 herum damit begonnen, die Stadt zu erweitern und hatte ihr als Wahrzeichen etwas gegeben, das den Fortschritt und das moderne urbane Leben in besonderer Weise verkörpern konnte. Der Wasserturm war der Nachweis einer geglückten modernen Bürgerversorgung. Das Symbol des Fortschritts trat nun also an die Stelle von Kathedralen oder Königsschlössern.

Heute wirkte er auf mich eigenartig hohl und nichtssagend. Was soll die Verehrung eines Wasserturms bewirken? Ich vermute, dass selbst ein Atheist mit mir einig ist, dass ein Kolossalgebäude auf einen höheren Zweck verweisen sollte als auf die Wasserversorgung.


P.S. Robert Gernhardt hat auch zu Mannheim etwas gedichtet:

Zu Mannheim stand ein Automat,
um die Jahrhundertwende,
der jeden an das Schienbein trat,
der dafür zahlte. Ende.

Der Titel des Gedichtes heißt: "Ansage"

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