Dienstag, 7. April 2020

Erinnerungen in den Zeiten von Corona (VI): Die schöne Melusine


In einem alten Buch mit Volkssagen habe ich als Kind wie benommen die Geschichte von der schönen Melusine gelesen. Die Geschichte war ergreifend, aber mehr noch war es das Bild der Melusine im Bad!

In der damaligen Zeit, in der am Zeitungskiosk noch nicht serienweise die Anatomie spärlich bekleideter Frauenkörper zu bestaunen war, erschien mir das Bild dieser rätselhaften Frau mit ihren festen Brüsten wie ein Schlüssel zur geheimnisvollen Welt des Weiblichen.

Ich rekonstruiere im Kopf mein Alter bei der ersten Begegnung mit Melusine, indem ich mir in Erinnerung rufe, dass ich ihren Namen früher als das Wort "Limousine" kennenlernte, und dass ich mich sogar gefragt habe, warum die beiden Worte so ähnlich klangen. Ich schließe aus allem, dass ich noch recht jung war und erinnere mich auch dunkel, dass ich noch nicht vollkommen über die Sexualität aufgeklärt war, die mich in dieser Phase meines Lebens langsam nach und nach in Beschlag nehmen sollte.

Ich glaube, dass ich häufiger zu dem prächtigen Sagenbuch aus dem Besitz meiner Eltern hingegangen bin, um die nackte Melusine zu betrachten, dass ich meiner Mutter aber etwas ausweichend von all den anderen wunderbaren Geschichten erzählt habe, die ich in dem Buch finden konnte. So schöpfte sie nicht den Verdacht, ich könnte mich schon viel zu früh auf den Spuren dem anderen Geschlecht hinterher bewegen.

Meine Eltern hatten insgesamt drei Bücher aus einer Sagen- und Märchenreihe des Westermann-Verlages. Ich habe zwei davon geerbt und festgestellt, dass ihr Copyright aus dem Jahre 1921 stammt. Die Buchdeckel sind aus dickem Karton und mit einem bedruckten Gewebe bespannt, das in etwa den damals noch nicht ganz abgeklungenen Jugendstil aufnimmt. Das dritte Buch, das mit den Märchen, hatte ich nicht mehr, konnte es jetzt aber günstig im Internet erwerben und habe nun also wieder alle drei Bücher zusammen.

Worin liegt die Faszination des Bildes von der schönen, nackten Melusine? Der Reiz des Bildes hat nicht nur mit dem unerlaubten Blick auf den unbekleideten Oberkörper einer Frau zu tun. Nein, ich kann mich eher an den Schreck erinnern, der mich als Kind ergriffen hat, als mir im Bild des Fisch- oder Schlangenschwanzes der Melusine die ganze Rätselhaftigkeit des anderen Geschlechtes aufgeschienen ist.

Die Melusine hatte ja dieses Geheimnis, das sie dazu zwang, sich jeweils am Samstag in ihre Kammer einschließen zu müssen. Es lag in ihrem so anders gearteten Unterleib, der sich immer nur Samstags zeigte. Das Glück ihrer Ehe mit dem Ritter Raimund währte nur so lange, wie dieser sich an das Versprechen hielt, sie an Samstagen niemals zu besuchen.

Mir ist natürlich nie der Gedanke gekommen, dass es tatsächlich Frauen mit rätselhaften unteren Hälften gibt. Aber dass es ein Geheimnis gibt, das sich ganz allgemein für die Männer im fremden Körperbau der Frauen verbirgt, davon habe ich damals eine Ahnung bekommen. Ich habe ihr nie ganz auf den Grund gehen können, ich habe sie aber auch nie ganz verloren.

Man sagt, das weibliche Wesen sei für den Mann ein Rätsel. Darüber ist oft geredet worden. Ich habe keine Lösung dafür, sage aber mit großer Bestimmtheit: dass es dieses Rätsel gibt, das ist gut so!

P.S. Die Gender-Gleichheit ist ein Gedanke, der zu Melusines Zeiten noch nicht aktuell war. Möglicherweise ist er falsch.

Keine Kommentare: