Donnerstag, 2. April 2020

Erinnerungen in den Zeiten von Corona (IV): Langeweile, Einsamkeit, Angst


Felder und Wälder bei Buchholzen
Im Haus meiner Großeltern in Buchholzen verging uns Kindern die Zeit oft nur sehr langsam. Das war uns meistens recht, weil wir gerne lange Schulferien in diesem Haus unter den hohen Bäumen machten.

Manchmal wurde uns die Zeit aber auch zu lang – etwa im Sommer des Jahres 1956, als meine Eltern zum ersten Mal zu einem längeren Campingurlaub nach Südfrankreich abgereist waren.

Ihre Rückkehr war für einen bestimmten Tag angekündigt, ohne dass allerdings die Uhrzeit bekannt war. Meine Schwester und ich lagen schon seit dem Vormittag gespannt wartend auf einer Wiese im Garten und hörten zu, wie die (in dieser Zeit recht wenigen) Autos die Dorfstraße herunter oder herauf fuhren.
Es verging eine schier endlos gedehnte Zeit. Am späten Nachmittag dann nahte sich nochmal Motorengeräusch. Diesmal war es ein Auto, das unten auf der Straße langsamer wurde und auf den Weg abbog, der zum Haus der Großeltern führte. Das Auto der Eltern! Wir liefen ihm entgegen und begrüßten die Heimkehrer mit Jubel.

Ein anderes Mal habe ich notvoll auf die Rückkehr meiner Großmutter und meiner Schwester gewartet, die zum Dorfladen von „Tante Toni“, etwa einen halben Kilometer entfernt, gegangen waren um einzukaufen. Ich war damals etwa zehn Jahre alt und hatte mich bockig dem Willen meiner Großmutter widersetzt, sie und meine Schwester zum Einkaufen zu begleiten.

Die Großmutter hatte mich vor den Ängsten der Einsamkeit gewarnt. Schon bald nach ihrem Weggang trat das auch ein, was sie vorhergesagt hatte. Die Einsamkeit im Haus wurde bedrohlich, alle Geräusche klangen fremd und gefährlich, die hohen Bäume vor dem Haus rauschten nicht mehr sacht, sondern in einem angsterfüllenden Ton. Mein Grauen steigerte sich von Minute zu Minute.

Endlich, nach einer ewig langen Zeit kamen die beiden Einkäufer dann mit vollen Taschen wieder zurück, zu meiner unendlichen Erleichterung.


In der letzten Zeit habe ich Stücke des Philosophen Martin Heidegger gelesen, der aus den Beobachtungen von langsam verstreichender Zeit und aufkommender Angst eine Philosophie gemacht hat, Sie soll den Menschen zu einer tieferen Erkenntnis seines Wesens führen.

In einer Vorlesung aus dem Jahre 1929 hat er den Freiburger Studenten über mehrere Sitzungen hinweg die Betrachtung der Langeweile nähergebracht und hat dabei das Ziel verfolgt, ihnen ein verborgenes Wissen über ihr Daseins zu erschließen.

Die Vorlesung hatte den anspruchsvollen Titel "DieGrundbegriffe der Metaphysik". Der Untertitel lautete „Welt – Endlichkeit – Einsamkeit“.

Wenn man länger in der später erschienen Buchausgabe liest, bekommt man eine Ahnung von der Vorgehensweise Heideggers. Sie ist kaum darauf aus, für bestimmte Dinge Begriffe zu bilden. Diese sind für Heidegger lediglich eine, wie er abwertend sagt, „formale Anzeige“ (Seite 431).

Das Wesentliche dagegen kann man eigentlich kaum begreifen - be-greifen würde Heidegger sagen -  man kann es immer nur im Kreis umgehen und dabei nur hoffen, gelegentlich durch eine richtige Frage einen Blick in die Mitte des Kreises zu bekommen.

Entlang des Kreisweges tut sich dafür aber eine angenehme Welt auf, die Heidegger von allen aufgeklebten Etiketten freihält. Nicht einmal „Existenzialismus“ kommt bei ihm vor, obgleich besonders die französischen Existenzialisten Heidegger sehr begierig studiert und auf seinen Gedanken aufgebaut haben.

Heidegger dringt, statt Begriffe zu finden, tiefer ein in das Reich der Stimmungen vor, von denen er sagt, „Die Stimmung ist nicht ein Seiendes, das in der Seele als Erlebnis vorkommt, sondern das Wie unseres Miteinander-Daseins.“ (Seite 100). Und weiter „Aber wir wissen: ‚in uns’, das Innere, all dergleichen ist fraglich, und wir wollen ja gerade umgekehrt durch die Interpretation der Stimmung uns selbst im Grunde des Wesens zu fassen suchen.“ (Seite 178)

Im Laufe der Vorlesung wird das Ziel deutlich, aus einer falschen Welt herauszutreten, in der unser Sein nur ein „mitplätscherndes Dabeisein“ (Seite 177) ist. Nein, wir sollen lernen, „uns selbst im Grunde unseres Wesens zu fassen" (Seite 178) und den falschen Glauben abzulegen, „es nicht mehr nötig zu haben, im Grunde unseres Wesens stark zu sein." (Seite 245). Denn „der Mensch, wenn er werden soll, was er ist, [hat sich] das Dasein auf die Schulter zu werfen", in einem mühevollen Prozess.

Ist es das, was man in diesen stillen Tagen von Corona lernen kann? Oder besser: was man sich nachdenkend erarbeiten sollte? Manchmal gebe ich mich den besonderen Stimmungen dieser Tage hin und hoffe, am Ende klüger aus dieser Zeit herauszukommen als ich hereingegangen bin, mit geschultertem Dasein.

Bei mir ist das Jahr 2020 ein Entscheidungsjahr, was die Gestaltung meines Lebensabends betrifft. In welcher innerlichen Verfassung will ich in meine letzten Jahre gehen? Da ist es gut, mich noch einmal neu auf meine eigene Gestimmtheit zu besinnen.

1 Kommentar:

Stefan hat gesagt…

sehr fein geschrieben......ja die Dinge sortieren sich neu in diese Zeiten......eine große Chance liegt darin