Dienstag, 21. April 2020

Erinnerungen in den Zeiten von Corona (IX): Tante Toni

Bei unseren Wanderungen im Quellgebiet des Eifgenbachs haben wir unser Auto häufig im Dorfkern von Buchholzen abgestellt und sind von dort in verschiedene Richtungen losgegangen. Hier im Dorf steht an einer Straßenkreuzung gegenüber der Gaststätte "Zur Buche" ein Schieferhaus, das früher einmal zu einer Schreinerei gehörte. Rechts an das Haus angebaut ist ein großer Balkon, der von einem Unterbau getragen wird, welcher aus einem einzigen Raum besteht, der zur Straße hin mit einer großen Fensterscheibe versehen ist.

Dieser Raum, kaum größer als ein mittleres Wohnzimmer, war früher das Ladengeschäft von "Tante Toni", der Schwester* des Schreiners. Zu ihr gingen wir als Kinder mit der Großmutter den halben Kilometer von ihrem Haus hinunter ins Dorf, um uns mit Lebensmitteln für den täglichen Bedarf einzudecken. 

In meiner Erinnerung ist der winzig kleine Laden sehr viel größer als der Raum im Anbau, den ich jetzt sehe. Die Erinnerung vermischt sich mit dem kaum größeren Remscheider Lebensmittelladen meiner Kinderzeit. Die Remscheider Ladeninhaberin hieß Frau Weber – „zuss Webers“ sagten unsere ungarndeutschen Nachbarn, wenn sie sich auf dem Weg zu ihr machten. Sie war keine "Tante", und dass man Läden wie ihren "Tante-Emma-Laden" nannte, habe ich wie viele andere Leute erst später mitbekommen, als die Supermärkte die kleinen Läden verdrängten..

In meiner Erinnerung haben beide Läden den fast gleichen Stahlbehälter für Milch, der mit einem verchromten Arm versehen war, mit dessen Hilfe man auf eine für mich als Kind unerklärliche Weise - Schwenk nach links - klick! - Schwenk nach rechts - klick! - sogleich folgte ein Schwall von schnell ausströmender Milch - eine Kanne mit genau einem Liter der wertvollen Flüssigkeit gefüllt erhielt. 

Ebenfalls in beiden Läden habe ich häufig das mit großzügiger Gebärde verteilte Stück Fleischwurst auf einer Gabel gereicht bekommen, das damals offenbar allen Kindern von Rechts wegen zustand.

Bei Webers habe ich außerdem zum ersten Mal in meinem Leben eine heiße Fleischbrühe probieren dürfen und bin dort also - wie ich erst viel später erfuhr - zum ersten Mal in meinem Leben dem mich überwältigenden Geschmack von umami begegnet, der laut einer japanischer Theorie die vier Geschmacksrichtungen süß, sauer, salzig und bitter um eine fünfte ergänzt.

Die Theorie von diesem ergänzenden Zusatz erschien mir - Jahre später, als ich von ihr las - sogleich einleuchtend zu sein, weil ich sie mit dem wohligen, salzig-fleischigen Geschmack der ersten Brühe in Verbindung bringen konnte, die ich bei Webers bekam.

Tante Toni war rundlich, und sie war wie die meisten beleibten Menschen auch sehr freundlich und in meiner Erinnerung immer gut gelaunt.

Sie hatte einen Sohn, der später die Schreinerei des Vaters übernahm. Er war etwa so alt wie ich, so dass ich ihn gelegentlich zum Spielen besuchen durfte, wenn ich bei der Großmutter in Ferien war.
Dieser Sohn ist leider nicht sehr alt geworden, vielleicht gerade 60 Jahre.

Ich las seine Todesanzeige vor einiger Zeit in der Zeitung. Sie zeigte das Bild eines übergewichtigen Mannes (ich darf das sagen, weil ich es selbst bin, aber er war sicherlich noch einen halben Zentner schwerer als ich) und war mit einer zweiten Anzeige verbunden, in dem sich eine große Zahl von Freunden von einem beliebten und offenbar auch dem Trunk nicht abgeneigten Mann verabschiedeten. Mir ist beim Betrachten der Anzeige und des Bildes mein eigenes Alter plötzlich erschreckend deutlich geworden.

Heute nun entdeckte ich zu meiner Überraschung im Vorgarten des Hauses den Grabstein von Tante Toni. Sie war, so las ich auf dem Stein, 1989 im Alter von 76 Jahren verstorben, und ich vermute, dass man im vergangenen Jahr, also 30 Jahre nach ihrem Tod, das Grab aufgegeben und den Stein nach Hause transportiert hat.

Ich finde, dass er hier am Rande der Dorfstraße einen guten Platz hat, weil sich noch viele ältere Leute sicherlich gerne an Tante Toni und ihre fürsorgliche Freundlichkeit erinnern.


* dass sie die Schwester des Schreiners war, nicht seine Frau, wie ich immer vermutet habe, und dass sie unverheiratet war, habe ich heute von einem mir gut bekannten "Nachbarsjungen" aus Oberdurholzen gelernt, der - Jahrgang 1947 - auf seinem Schulweg bei Tante Toni vorbeikam und der heute noch in Oberdurholzen lebt. Er sagte mir auch, dass der Anbau mit der großen Scheibe eine Erweiterung ist, die ursprünglich nicht da war - zuerst war der Laden in einem Zimmer des Hauses untergebracht.

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