Dienstag, 14. April 2020

Erinnerungen in den Zeiten von Corona (VIII): Die Bibel lesen


Es ist ein kleiner dunkler Fleck in meinem Lebenslauf, dass ich noch niemals in all den Jahren die Bibel ganz von vorne bis hinten gelesen habe.

Zwar ist mir die Bibel das vertrauteste Buch von allen. Manche Passagen kann ich auswendig hersagen. Ich habe die Bibel mehrfach nach bestimmten Leseplänen über Wochen und Monate kreuz und quer gelesen. Aber sie vorne aufzuschlagen und Seite für Seite zu lesen, bis ich am Ende bei der Offenbarung angekommen bin, das habe bisher noch nie in meinem Leben getan.

Die Vertrautheit mit der Bibel, entstanden über unzählige Stunden in der Sonntagschule, in Gottesdiensten, in Bibelgruppen, über eigene Andachten, geht soweit, dass meine Frau und ich – sie mit einer ganz  ähnlichen Lebensgeschichte – beim morgendlichen Lesen der Herrnhuter Losungen manchmal einen Bibelvers anfangen und dann den anderen aus dem Kopf sagen lassen, wie er weitergeht. 

Ich habe also kein schlechtes Gewissen, wenn mich jemand fragt, ob ich die Bibel je ganz gelesen hätte und ich nein sagen muss. Die Bibellesepläne, denen ich früher gefolgt bin, lassen eine Reihe von Stellen aus, so dass ich ziemlich sicher bin, dass ich weder die Baupläne des Tempels noch die Geschlechtsregister, die sich in den ersten Büchern Mose finden, lückenlos gelesen habe.

Vor ein paar Monaten habe ich nun aber den Entschluss gefasst, daran etwas zu ändern. Und während der Corona-Zeit habe ich auch den ersten Teil meines Projektes abgeschlossen: das Neue Testament ganz zu lesen. Ermutigt hat mich der Schriftsteller Ernst Jünger, der ausweislich seiner Tagebücher zwischen dem 3. September 1941 und dem 28. Mai 1944 die Bibel einmal komplett durchgelesen hat. Er wurde seinerzeit am Pfingstsonntag mit dem Lesen der Offenbarung fertig, und ich fand es nicht wenig erhebend, dass mir dasselbe in der Osternacht 2020 gelungen ist.

An diesem Ostern war ich wieder einmal viel zu früh wach geworden und hatte mich, schlaflos wie ich war,  in das dunkle Wohnzimmer gesetzt und meine geliebte Elberfelder Übersetzung (geliebt weil sie fast wörtlich übersetzt) zur Hand genommen. Dann habe ich die letzten elf oder zwölf Kapitel der Offenbarung gelesen.

Was habe ich in den Monaten des regelmäßigen Lesens gelernt? Zunächst – es ist ein großer Schritt die gewohnte Miniaturansicht zu verlassen, die man beim Lesen von immer nur kleinen Abschnitten vor sich hat. Das betrifft etwa das Lesen von Andachtsbüchern, betrifft auch Predigtauslegungen, bei denen es manchmal nur um ein einziges Wort in einem Kapitel oder Vers geht. Liest man dagegen das Ganze, dann tritt man in die weite Freiheit ein, in welcher die Bücher mit einem Respekt gebietendem Abstand eins neben dem anderen vor uns stehen und ihre Stimme so erschallen lassen, dass man sie klar und deutlich in ihrem eigenständigen Ton hört.

Mich hat zum Beispiel überrascht, wie stark der Wechsel in der Tonart wirkt, wenn man von dem Paulus der Apostelgeschichte hinübergeht ins nächste Buch, um dort den Paulus des Römerbriefes zu treffen. Ja, es ist ein und die selbe Person, aber sie redet und handelt offenbar in zwei sehr unterschiedlichen Lebensphasen.

Überraschend fand ich auch, wie wenig sich die Bilder der Offenbarung unter einem weiteren und generelleren Blickwinkel zu einer Deutung der aktuellen Zeitgeschichte zusammenstellen lassen. Hier entfaltet sich ein himmlisches Drama, dessen Szenen einen verborgenen Sinn ergeben, der sich hier unten, in der Realität dieser Erde trotz aller Bemühungen nicht wiederfinden lässt. 

Es mag sein, dass die "Zahl des Tieres" sich in den modernen Barcodes auf den Waren im Supermarkt zeigt, wie manche Endzeitexperten behaupten, und dass der bittere apokalyptische Stern, der auf die Erde fällt auf Russisch "Tschernobyl" heißt, aber wo in der Offenbarung sind die wirklich gravierenden Geschehnisse, wo ist Hitler, wo ist Stalin, wo sind die unzähligen Toten der beiden Weltkriege?

Mein Respekt vor den Worten der Bibel macht sich nicht an den klugen Gedanken mancher Auslegungen fest, obwohl ich sie in hohem Ansehen halte. Eher hänge ich an der Gesamtheit der Bibel auf, weil diese Heilige Schrift eine Reihe von großen Melodien zu einem perfekten Konzert von Stimmen zusammenfasst. Und das versteht man, wie ich nach und nach einzusehen lerne, wohl am besten, wenn man die Bibel von vorne bis hinten liest.

Insofern folge ich Ernst Jünger, der die Bibel  wie einen großen Roman der Weltliteratur gelesen hat. Meine frommen Vorfahren würden sagen, dass dieser Zugang nicht ausreicht, um die Bibel tiefer zu verstehen. Darin haben sie recht. Aber sich einmal mit einem neuen frischen Blickwinkel zur Bibel zu stellen und an sie mit dem selben Grundvertrauen heranzutreten, mit dem man Tolstois „Krieg und Frieden“ aufschlägt, das tut dem Kopf des Lesers gut. Wenn er dann außerdem noch die alte, abschnittsweise, wortweise Art des Lesens bereits kennt – desto besser!

P.S. Ich habe am Ostermontag damit begonnen, jetzt auch das Alte Testament zu lesen und habe gleich im ersten Abschnitt eine neue Entdeckung gemacht: Gott schuf nicht nur das Licht (die Finsternis war bereits vorher da) er „schied“ sogar Licht und Finsternis, was ja nach unserem alltäglichen  Verständnis  eigentlich nicht notwendig ist. Gestern beim Lesen kam es mir so vor, als ob auch das Wesen der Worte in diesem Schöpfungsakt erstmals erschaffen werden musste. Was ist Licht, was ist Finsternis? Wenn Gott es nicht scheidet, haben wir keinen Begriff davon.

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