Montag, 27. März 2023

Historisch-kritische Bibelforschung und die Jesus-Serie The Chosen

Ein lieber Freund sagte mir, als ich ihm begeistert von meinen Erlebnissen mit The Chosen berichtete, er hoffe doch, dass die Serie die Ergebnisse der historisch-kritischen Bibelforschung berücksichtigt habe. Ich hatte wenig Zeit zu antworten, deshalb habe ich die unhöfliche Antwort „mit dieser Kritik wäre die Serie erst gar nicht entstanden" unterdrückt und habe nur ein paar allgemeine Worte gesagt.


Nach längerem Überlegen ist meine Antwort nun aber doch: auf der Basis der Bibelkritik wären viele Teile des Films erst gar nicht entstanden, und außerdem: ein Film auf dieser Basis hätte nur ein paar Autoren, über Zettelkasten gebeugt, beim Aufschreiben der Bibel zeigen können.

The Chosen sagt bereits im Vorspann, dass viele Szenen einer freien Erfindung folgen. Das kann niemand übersehen, der die Berichte der Bibel halbwegs kennt. Wer allerdings Erfahrungen mit der Konstruktion von modernen Romanen gemacht hat, weiß vielleicht, dass auch diese ohne Hinzuerfindungen kaum auskommen. Man merkt das immer dann, wenn ein Autor seine eigene Lebensgeschichte aufschreibt und kein Material hat, das er frei hinzuerfinden kann, damit die Geschichte einen roten Faden bekommt. Dann wird es oft ungewöhnlich sperrig und am Ende langweilig.

Umgekehrt wäre etwa eine streng an den realen Personen und Ereignissen orientierte Ausgabe der Buddenbrooks nicht halbwegs in dem Maße lesbar wie es am Ende der Roman ist. Die Hinzuerfindungen glätten gewissermaßen den Verlauf der Erzählung und schaffen den roten Faden.

Paras Patel als Matthäus
Einen roten Faden hat The Chosen in reichem Maße – aber eben nur, weil viele der hinzuerfundenen Szenen das große Bild ergänzen. Ich erwähne als Beispiel den Jünger Matthäus, der als reicher Zöllner dargestellt wird, der aber gleichzeitig auch der Schreiber des ersten Evangeliums sein soll. Dieses Zusammengehen würde die moderne Bibelkritik bestreiten. Aber im Film läuft der gute Mann deutlich an seinen reichen Kleidern erkennbar als wunderbar bunter Farbtupfer mit den Jüngern mit und notiert sich vieles, was geschieht – um später darüber schreiben zu können.

Der Autor und Regisseur der Serie, Dallas Jenkins, hat Ihm dabei den Charakter eines Autisten gegeben, wobei Jenkins auf persönliche Erfahrungen mit Autisten in seinem unmittelbaren Lebensbereich zurückgreifen konnte. Der Autismus erklärt die Präzision, mit der Matthäus in seinem ersten Beruf die Zollschulden nachhalten kann und in seinem zweiten Beruf, die Worte und Taten Jesu behält. Das passt alles – auch wenn es historisch hierfür keinen Beweis gibt.

Sehr anrührend ist auch die Erfindung der Ehefrau des Simon Petrus. Aus der Bibel bekannt ist die Existenz seiner Schwiegermutter, also ist es nicht falsch, auch die Existenz einer Ehefrau anzunehmen. Und dann ist es nicht falsch, die Probleme des Simon zu schildern, die sich aus seiner ständigen Abwesenheit ergeben.

Der Film erfindet eine Schwangerschaft hinzu, die in einer Fehlgeburt endet. Diese stürzt Petrus in tiefe Zweifel und seine Frau in die Problematik, jetzt unrein zu sein. Die dritte Staffel endet in dem vorerst letzten Film (Episode 8), in welcher der sinkende Petrus auf dem See Genezareth von Jesus gerettet wird und gleichzeitig die Ehefrau zur Reinigung in ein rituelles jüdisches Bad ein taucht. Beide tauchen ein, filmisch wunderbar verbunden, beide sind am Ende gerettet, Simon durch Jesus und seine Frau durch den Gehorsam gegenüber den alten jüdischen Gebräuchen.

Es ist eine große friedensstiftende Gesamtschau, die alle Filme durchzieht. Unter den Pharisäern sind ausgesprochen sympathische Typen, und auch der römische Kommandant freundet sich mehr und mehr mit den Jüngern an (und wird voraussichtlich in der vierten Staffel der Hauptmann von Kapernaum sein, dessen Knecht geheilt wird).

Ich war an vielen Stellen des Films in meinem Herzen sehr stark angerührt und habe mich dann auch immer wieder gefragt, warum mir der tiefere Zusammenhang der einzelnen Jesusgeschichten nie so deutlich vor Augen gestanden hat. Es muss so oder ähnlich gewesen sein. wie es der Film beschreibt. Aber mein alter Zettelkasten-Glauben, hat das nie zu einem großen Bild zusammenfassen können. Dazu brauchte ich den Film.

 

Montag, 27. Februar 2023

Erweckung

Asbury
Zu den erstaunlichen Berichten aus der kleinen Universitätsstadt Asbury in Kentucky hat die New York Times einen Kommentar veröffentlicht. Dieser erinnert an die berühmte Erweckung des Apostels Paulus vor Damaskus.

Ross Douthat schreibt: „Die Begegnung auf der Straße nach Damaskus erschuf Paulus, den Apostel, aber sein Leben danach war Organisieren, Predigen, Briefe schreiben - und Ledersohlen.“

Er beantwortet damit eine wichtige Frage, die mir häufiger begegnet ist: was geschieht mit Menschen, die ein sehr eindringliches Gotteserlebnis gehabt haben in ihrem späteren Lebensalltag? Douthat sagt: Sie haben es mit den üblichen Schwierigkeiten des Lebens zu tun, auch wenn sie in ihrem inneren Wesen verändert sind.

Memorial des Blaise Pascal
Eine andere berühmte Erweckung hat es bei dem französischen Philosophen und Mathematiker Blaise Pascal im Jahre 1654 gegeben. Er wollte sich sein Leben lang daran erinnern und hat ein „Memorial“ in seinen Rock eingenäht, auf dem die Erlebnisse aufgeschrieben waren.

Dies hat den argentinischen Dichter Jorge Luis Borges, selbst mit übernatürlichen Erlebnissen vertraut, dazu veranlasst, ein wenig spöttisch zu schreiben, warum denn Pascal sein Leben lang endlose grüblerische Gedanken über den Glauben aneinandergereiht habe, wenn er doch dieses eine große Licht gesehen hat.

Ich denke, dass die New York Times hier eine Antwort hat. Menschen erleben, dass ihnen das Göttliche begegnet, oder dass eine Kraft aus der anderen Welt in ihr Leben einströmt und es verändert. Was danach geschieht und in welche Richtung diese Veränderung geht, bleibt zunächst offen.

Bemerkenswert ist aktuell, dass die Leiter der Universität Asbury sehr bemüht darum sind, keine Kräfte von außen zu erlauben, sich der Bewegung zu ermächtigen und sie für ihre Zwecke zu nutzen. Es gab wohl auch schon Trump-Anhänger, die das versucht haben.

Die Versuchung ist groß. Schon die frommen Pietisten haben sehr auf eine dauernde Wirkung der Erweckung gedrängt und gesagt: "Wenn der Bauer sich bekehrt, muss das Vieh im Stall es merken". Das ist ein schöner Satz, der aber nicht bedeutet, dass die Kühe jederzeit einen Bauern beobachten, von dem ein besonderes Erweckungslicht ausgeht. Er soll an bestimmten Stellen seines täglichen Handels anders sein als vorher. Aber das sind eben einzelne Stellen, nicht sein permanent sichtbares Äußeres.

Auch die Frommen der Brüdergemeinde, aus der meine väterliche Familie stammt, haben von einem ihrer Gründer, John Nelson Darby, das Motto erhalten, in ihren Gottesdiensten solle die Gegenwart des Heiligen Geistes jederzeit spürbar sein. Ich halte dieses „jederzeit“ für problematisch und möglicherweise sogar Ursache für eine angestrengte und manchmal unangemessene Heiligkeit.

Ich finde den Gedanken besser, den der säkulare Auto Rüdiger Safranski geäußert hat: Der Gläubige sagt, dass ihm etwas begegnet und in sein Leben getreten ist, das jetzt in ihm glaubt. Glaube gründet auf einer Offenbarung, die im Inneren eines Menschen weiterlebt.

So wünsche ich mir den Glauben, bei mir, bei meiner Gemeinde und in der ganzen Welt: ein Etwas, dass in mir glaubt, und das in solchen Erweckungserlebnissen wie im Asbury immer wieder einmal neu ins Leben gerufen wird.

 

Donnerstag, 16. Februar 2023

Meine Mutter - geboren heute vor 100 Jahren

Als ich mich hingesetzt habe, um diese Erinnerung an meine Mutter aufzuschreiben, ist mir der alte Theologensatz in den Kopf gekommen, wonach es unmöglich ist, etwas über die „Grundlage unserer Existenz“ zu sagen. Die Theologen haben dies auf Gott bezogen und von der „Unmöglichkeit von Gott zu reden“ gesprochen. Man kann ihn nicht gedanklich vor sich hinsetzen und über ihn zu reden anfangen, als ob er jemand Fremdes wäre. Jetzt, wo ich etwas über meine Mutter Sigrid Runkel geb. Bohle sagen soll, empfinde ich eine ganz ähnliche Unmöglichkeit.

Meine Mutter hat mein Leben getragen, nachdem sie es ja buchstäblich aus sich selbst hervorgebracht hat. Sie hat auf eine kaum beschreibbare, aber trotzdem immer reale Art und Weise ein Leben lang zu mir gehalten. Das galt selbst dann, wenn es darum ging, einige unangenehme Dinge über mich auszusprechen. „Der Schönste ist er nicht“, sagte sie etwa, wenn sie meine dünnen und leicht fettenden Haare kämmte und meine pubertären Pickel betrachtete. Sie blickte mich dabei aber so liebevoll an, dass mir klar wurde, dass ich keine Hollywood-Schönheit sein musste, um in ihrem Herzen einen ewigen Platz zu haben.

Dass ich ein guter Schüler war, hat sie nie besonders erwähnt. Sie hat es als selbstverständlich, vorausgesetzt, nachdem sie selbst mit vielen guten Zensuren gesegnet die Schule nach zehn Jahren verließ. Besonders gut getan hat es ihr dabei, dass ihr älterer Bruder Adalbert für ähnlich gute Zensuren viel länger arbeiten musste als sie. Der Bruder wurde später Professor, aber die natürlichen Anlagen für eine solche Karriere schlummerten doch eher in ihr.

Wenn sie „nur“ eine Ausbildung zur Diätassistentin am Krankenhaus machen durfte, dann lag es an der Armut des väterlichen Haushaltes, der nur die Ausbildung eines einzigen Mitglieds finanzieren konnte. Ihr Vater, Erwin Bohle, der nach einer gescheiterten Karriere als Einzelhändler seiner eigentlichen Berufung folgte und mit fast 40 Jahren zum Baptistenprediger umschulte, verdiente in diesem Beruf nur ein sehr bescheidenes Einkommen. Darunter litt am meisten die aus großstädtischen Verhältnissen stammende Mutter Lina, die nie müde wurde, von den schönen Konzerten der Berliner Philharmoniker zu erzählen, die sie als junges Mädchen besucht hatte.

Über diese Mutter kam eine musikalische Kultur in die Familie des Baptistenpredigers, die um ein Haar die Liebe meines Vaters zu meiner Mutter gefährdet hätte. Mein Vater kam aus einem Handwerker-haushalt in einen Pastorenhaushalt (so kann man sagen, auch wenn man die Baptistenprediger erst in späteren Jahren „Pastoren“ nannte), das passte nicht. „Die haben den ganzen Tag nur Bach hoch und runter gespielt“, erinnerte er sich später unwillig.

Die Ehe meiner Eltern kam erst 1948 zu Stande, nachdem meine Mutter einen ersten Heiratsantrag meines Vaters noch zu Kriegszeiten abgelehnt hatte. Damals war ein anderer Kandidat mit im Spiel, der aber in den letzten Kriegstagen an der Front fiel. Sein Foto hat sie aufbewahrt und uns Kindern immer wieder einmal gezeigt. Dieser ernste Mann mit den vielen guten Noten in seinem Abitur hätte Euer Vater sein können.

Aus der Ehe meiner Eltern gingen fünf Kinder hervor. Nach mir, dem ältesten, kamen innerhalb von acht Jahren noch drei Schwestern und ein Bruder hinzu. Die Eltern haben mit dieser Kinderschar ein offenes Haus geführt, zu dem jeder von uns ungefragt weitere Kinder einladen durfte, ohne dass meine Mutter je über einen schwindenden Vorrat an Lebensmitteln geklagt hätte.

Es gehört sicherlich zum Glück meiner Jugend, dass meine Mutter ein lebendiges Interesse an den vielen bunten Menschen zeigte, die meine Geschwister und ich ins Haus brachten sie. Sie sprach recht gut Französisch, behauptete aber, dass auch alle anderen Ausländer sie gut verstehen würden, wenn sie nur langsam genug mit ihnen spräche. „Wollen - Sie - noch - etwas - Suppe, Herr Moon?“ Und der angesprochene Koreaner nickte wie selbstverständlich.

Gebetet hat sie mit uns, und Lieder gesungen am Bett. Wenn sie die Grundlage meiner Existenz war und Gott die Grundlage unserer aller Existenz, dann war das beides eine Selbstverständlichkeit, die sie mit einem vertrauensvollen Herzen an uns weitergab.

Gebetet hat sie auch für uns und für viele andere Menschen, still im Bett, jeden Morgen nach dem Aufwachen. Ich freue mich, dass meine Frau diese Angewohnheit übernommen hat. Ich habe von der Mutter geerbt, mich an Geburtstage zu erinnern, wozu ich allerdings schriftliche Tabellen brauche. Sie hatte alles im Kopf und wachte morgens auf und sagte als erstes „heute hat Günter Odau Geburtstag".

So lebt sie in meine Erinnerung weiter, und ihr freundliches Lächeln ist im Prinzip das, mit dem ich bis zum Ende meines Lebens der Welt begegnen möchte.

Am Wochenende treffen sich meine Geschwister und ich in ihrem Geburtstort Derschlag, einem Ortsteil von Gummersbach, und gehen nach einem Rundgang im Dorf zum Kaffeetrinken in die nahe Rengser Mühle, wo es die dick mit Eierschaum gefüllten Pfannkuchen gibt, wahlweise mit Zucker oder mit Speck. Unerklärlich war es der Mutter, wie der Koch den Eierschaum zwischen den unteren und den oberen Pfannkuchen hinein bekam, die beide fest miteinander verbacken waren.. 

Mittwoch, 18. Januar 2023

Mein Onkel Hermann

Vor einiger Zeit habe ich hier im Blog über meinen Onkel Johannes berichtet. Heute will ich von meinem Onkel Hermann Runkel erzählen, der vor genau 100 Jahren, am 18. Januar 1923 geboren wurde. Mein Vater erzählte mir, dass er seinen Bruder im Dezember 1949 vom Bahnhof abholte, als dieser aus russischer Kriegsgefangenschaft heimkehrte. Zur Begrüßung hatte er das erste neugeborene Kind der Familie mitgebracht - mich, damals ein knappes Jahr alt.

Onkel Hermann (im Bild in der Mitte hinten) hat von dieser über vierjährigen Gefangenschaft, in der er fast an der Ruhr gestorben wäre, sehr bewegend erzählen können, daran erinnere ich mich gerne. Er hat eine Nottaufe erhalten, und zwar wenn meine Erinnerung richtig ist, von einem katholischen Priester, und er hat diese immer für zutiefst gültig angesehen, auch wenn die baptistischen Amtsträger zweifelnd blickten (von ihm aber schließlich keine zweite Taufe verlangen wollten). 

Später hat er zusammen mit seinen Brüdern Adolf und Johannes und seinem Vetter Ernst unser Familienunternehmen in der dritten Generation geführt. Das ging nicht immer spannungsfrei vonstatten, hat aber die vier Männer bis an ihr Lebensende - alle starben im Alter zwischen 76 und 78 Jahren - gut und sicher ernährt.

Wenn mein Vater sich über seinen drei Jahre jüngeren Bruder beschwerte, dann erzählte er meistens, dieser habe schon in jungen Jahren alle seine Verpflichtungen immer über-erfüllt. Trug mein Vater ein Kantholz aufs Gerüst, so trug Hermann zwei, und während sich die Brüder bei der Mutter vor mancherlei Küchenarbeit drückten, war Hermann zur Stelle, ohne Widerspruch zu leisten. "Charakter - das ist das schlimmste, was ein Mensch haben kann", sagte mein Vater dann gerne.

Der "Charakter" gab Anlass zu manchem Konflikt, wozu vielleicht auch die Tatsache beitrug, dass mein Vater Adolf einen Zwillingsbruder Hermann I hatte, der als Frühgeburt nach wenigen Wochen starb. Hermann II war dagegen ein gesundes und muskelstarkes Kind, das dem lange Zeit eher schwächlichen Adolf möglicherweise ein Konkurrent war. 

Ich werde heute Hermanns Sohn Peter besuchen und ihm eine Flasche Calvados bringen. Das war Hermanns Lieblingsgetränk, vermutlich weil er die einfachen Dinge liebte. Dieses Erbe habe ich gerne von ihm übernommen.

Montag, 9. Januar 2023

Danke für die Geburtstagsgrüße!

Zu meinem heutigen Geburtstag haben mich auf unterschiedlichen Wegen viele gute Wünsche und liebe Grüße erreicht. Bevor ich versuche, wenigstens einige davon persönlich zu beantworten, will ich mich mit diesen Zeilen herzlich in die Runde der lieben Gratulanten hinein bedanken und kurz erzählen, was mich derzeit bewegt.

Aus einem früheren Blogeintrag ist dem ein oder der anderen vielleicht bekannt, dass ich mich mit der amerikanische Schriftstellerin Marilynne Robinson beschäftige. Ich habe sie erst kürzlich kennengelernt, nachdem der irische Autor Colm Toíbín in seinem neuesten Buch (siehe Bild) über sie geschrieben hat.. Er hat in einer Sammlung von Essays Robinsons Bücher unter der Überschrift vorgestellt „Der Religion ihren Ort geben“ (Putting Religion in its Place).

Das ist ein großes Wort, ein großes Programm, aber Toíbín bleibt diesem Anspruch nichts schuldig. Er hat in den Essays davor, eine recht schonungslose Analyse der irischen Katholiken geschrieben, von denen er sich innerlich distanziert hat. Er berichtet über Einzelheiten das auch in Irland schmerzhaften Missbrauchsskandals.

Wenn er dann in einem weiteren Essay auf die protestantische Marilynne Robinson zu sprechen kommt, so ist sie indirekt eingebunden in solche Berichte. Sie bildet aber kein Gegenbild zu den dunklen Bildern, die Toíbín von den katholischen Iren liefert. Die Beschäftigung mit ihr beantwortet dagegen grundsätzlich die Frage, welche Rolle die Religion – katholisch oder protestantisch – in einer Welt spielen kann, die sich zunehmend von ihr entfernt.

Vielleicht lässt der dunkle Hintergrund die Farben eher hervortreten, die Robinson auf ihrer Palette hat. Toíbín untersucht nicht nur die Farben dieser Autorin, er greift auch auf Überlegungen des von ihm geschätzten Autors Henry James zurück, über den er sagt

Er stellt sich Charaktere vor, die etwas vom Leben selbst wollen, das nicht einfach benannt werden kann, ohne aus der Religion entlehnte Begriffe zu verwenden; es schließt Schönheit und Großzügigkeit ein, aber es umfasst noch etwas mehr – Gnade, Erlösung, Rettung – Begriffe, die religiös sind.*

Diesen Begriffen geht Robinson nach und schreibt an einer Stelle.

Nachdem ich kürzlich gelesen habe, dass es im menschlichen Gehirn mehr Neuronen gibt als Sterne in der Milchstraße, und nachdem ich unzählige Male gelesen habe, dass das menschliche Gehirn das komplexeste Objekt ist, von dem bekannt ist, dass es im Universum existiert, und nachdem mir bewusst ist, dass der Geist nicht identisch mit dem Gehirn ist, aber immer noch noch mysteriöser, erscheint es mir, dass dieser erstaunliche Zusammenhang des Selbst, so einzigartig elegant und fähig, einen Namen verdient, der einen Unterschied in der Art vom ontologischen Lauf der Dinge anzeigen würde, und für meine Zwecke würde "Seele"  gut tun.**

Möglicherweise wird der ein oder andere, dieses eher literarische Eintreten für die Religion für zu schwach empfinden. Aber wenn es nach dem Verschwinden der Religion auch bestimmte Worte nicht mehr gibt, um allgemein-menschliche Verhältnisse zu beschreiben, dann ist die Frage erlaubt, was man tun muss, um diesem Verschwinden etwas entgegenzusetzen.

Gerne würde ich in den wenigen mir noch verbleibenden Jahren einen Einsatz dafür leisten, dieser Religion mehr Platz zu geben Die Welt ist ärmer ohne sie.



* He imagines characters who want something from life itself that cannot easily be named without using terms borrowed from religion; it includes beauty and generosity, but it embraces something further – grace, redemption, salvation – terms that are religious. 


** Having read recently that there are more neurons in the human brain than there are stars in the Milky Way, and having read any number of times that the human brain is the most complex object known to exist in the universe, and that the mind is not identical with the brain but is more mysterious still, it seems to me this astonishing nexus of the self, so uniquely elegant and capable, merits a name that would indicate a difference in kind from the ontological run of things, and for my purposes ‘soul’ would do nicely.


 

Samstag, 7. Januar 2023

Gilead


Sie singen immer noch die Evangeliumslieder vom „Alt rauhen Kreuz“ und vom „Fels des Heils geöffnet mir“, und wenn sie sich in ihrer altersmilden Weisheit über die Wege der Menschen auf dieser Erde unterhalten, so verwenden sie vielfach die Begriffe aus ihrer reformatorischen Tradition, die in ihrem Ursprung auf die Schriften Johannes Calvins zurückgehen.

Die beiden Pastoren, Presbyterianer, der eine, Kongregationalist der andere, leben in der kleinen Stadt Gilead mitten in der Prärie im amerikanischen Bundesstaat Iowa und werden in ihrem Alter jenseits der 70 von ihren Gemeindemitgliedern liebevoll betreut. Man hat ihnen versprochen, die alten Kirchengebäude, in denen sie jeweils als junge Pastoren ihren Dienst angetreten sind, erst nach ihrem Tod abzureißen und neu zu bauen. Die beiden unterscheiden sich in ihren Meinungen nur geringfügig und meistens auch nur dann, wenn es um die Politik des Präsidenten Eisenhower geht.

In die Harmonie der kleinen Stadt brechen zwei Störungen ein. Der verlorene Sohn des einen Pastors kehrt nach 20 Jahren nach Hause zurück, und die lange Witwenschaft des anderen endet, nachdem er eine junge Frau heiratet, die als etwas verwahrloste Wanderarbeiterin eines Tages vor seiner Tür steht und ihm zunächst in Haus und Garten hilft.

Die Hochzeit mit dieser Frau wird mit einem Kind gesegnet, das den bis dahin kinderlosen Pastor zu einem glücklichen Vater macht. Angesichts seiner nur noch kurzen Lebensspanne beginnt er, seine Lebensgeschichte niederzuschreiben, damit der kleine Junge sie eines Tages lesen kann.

Der verlorene Sohn des anderen Pastors ist 40 Jahre alt und war von klein auf das schwarze Schaf der Familie. Nach ein paar Diebstählen und sonstige Vergehen, die ihn mit dem örtlichen Sheriff überkreuz brachten, verschwand er aus Gilead und war mit dem unglücklichen Vater nur insoweit verbunden, als dieser nie aufhörte, für den Sohn zu beten.

Als er dann zurückkam, stellte sich zur Überraschung aller heraus, dass er ein durchaus charmanter und sowohl in der Bibel, als auch in den Schriften Calvins bewanderte Mann war. Sogar die alten Evangeliumslieder wie "Wenn nach der Erde, Leid, Arbeit und Pein" konnte er auf dem Klavier begleiten. Aber seine immer wieder aufbrechende, mit Alkoholismus verbundene schlechte Art bekam er nicht in den Griff, obwohl der Aufenthalt in seiner Heimat ihm dazu helfen sollte.

An dieser Stelle füllt sich die theoretische Beschäftigung mit der Theologie Calvins überraschend mit Leben. Es stellt sich die Frage, ob dieser immer wieder in sein Unglück rennende Mann eine Chance hat, sich zu verändern. Er selbst verneint das – und argumentiert dabei letztlich mit der Prädestinationslehre von Calvin. Er ist zu dem Leben eines Kleinkriminellen prädestiniert, nimmt er an.

Nur die Wanderarbeiterin Lila, die den anderen Pastor geheiratet hat, behält die Zuversicht, dass auch
für Menschen wie ihn eine Änderung möglich ist. Aber das ist eine lange Geschichte mit langen, lebendig geführten Dialogen, für die es lohnt, dieses Buch der Amerikanerin Marilynne Robinson (geboren 1943) zu lesen. Hier im Bild steht sie neben Barack Obama, der ihre Bücher auf einer Wahlkampfreise durch Iowa für sich entdeckt hat. 

Montag, 31. Oktober 2022

Mevlüde Genç (5. Februar 1943 – 30. Oktober 2022)


Gestern ist das Oberhaupt der Familie Genç, die am 29. Mai 1993 bei dem Brandanschlag in der Unteren Wernerstraße 81 in Solingen fünf Mitglieder verloren hatte, in Solingen gestorben. Sie wurde 79 Jahre alt.

Bei dem Anschlag haben sie und ihr Mann zwei Töchter im Alter von 28 und 19 Jahren verloren, außerdem zwei Enkelkinder, neun und fünf Jahre alt, und eine zwölfjährige Nichte. Andere Mitglieder ihrer Familie wurden teilweise schwer verletzt.

Zur Verantwortung gezogen wurden vier junge Männer aus Solingen, die zum Tatzeitpunkt teilweise noch unter Jugendstrafrecht standen.

Ich erinnere mich noch gut, dass damals mit türkischen Fahnen wie gepanzert wirkende Autos durch meine Heimatstadt Remscheid in Richtung auf den Nachbarort Solingen fuhren. Ein großer grüner BMW, dessen Motorhaube ganz mit einem roten, mit Halbmond und Stern verzierten Fahnentuch bedeckt war und dessen junge Insassen finster und entschlossen in Richtung Solingen blickten, ist mir noch in besonderer Erinnerung. Ich bin selbst zwei oder drei Tage nach dem Anschlag in die Untere Wernerstraße gefahren und habe zusammen mit vielen anderen betroffenen Menschen an der Ruine gestanden.

Ich habe später erfahren, dass die besonnene und von Anfang an versöhnliche Reaktion der Familie Genç ganz stark dabei mitgeholfen hat, die damals beginnenden gewalttätigen Unruhen im Keim zu ersticken. Ich sehe noch in der Nähe des Tatortes die mit großen Holzplatten abgesicherten Schaufenster verschiedener Solinger Geschäfte vor mir. Uns allen drohte damals eine große Eskalation.

Meine eigene Reaktion sah damals so aus, dass ich eine Handvoll türkische und deutsche Geschäftsleute aus meinem Bekanntenkreis zusammengerufen und ein regelmäßiges Mittagessen in einem China-Restaurant veranstaltet habe, dessen Essen ich damals für "halal" hielt. Wir waren uns einig, dass sich solche Anschläge nicht wiederholen durften und wollten unseren persönlichen Beitrag dazu leisten.

Weder der verblendete Hass der Attentäter noch der Ruf nach Vergeltung unter dem aufgebrachten jungen Türken entsprang der Mitte der Gesellschaft, in der wir lebten. Die Mehrheit war der Überzeugung, dass Anschläge und Krawalle gleichermaßen nicht zu unseren Grundsätzen passten..

In allem hat die besonnene Reaktion besonders von Mevlüde Genç die Wogen geglättet. Türkische Freunde, die Frau Genç später besucht haben, erzählten mir von dem starken persönlichen Eindruck, den sie von dem Besuch mitgenommen haben. Mevlüde Genç wollte die überlebenden Familienmitglieder nicht mit einer ewigen Trauer belasten und außerdem das Land, in dem sie lebte und dessen Bürgerin sie wenige Jahre nach dem Attentat wurde, nicht dauerhaft mit Vorwürfen überziehen. Das Attentat hatten verirrte junge Leute begangen, halbe Kinder teilweise noch. Es war in Deutschland geschehen, es war aber dem Land nicht insgesamt anzulasten.

Mevlüde Genç hat Frieden gestiftet. Möge sie in Frieden ruhen.