Montag, 28. Dezember 2009

Geschenke






Es gab auch in diesem Jahr viele schöne Geschenke. Auf zwei davon möchte ich besonders aufmerksam machen. Da ist einmal der Schalke-04-Pullover, den mir mein Arbeitskollege Guido Lammert schenkte. Er trug vor ein paar Wochen einen gleichfarbigen Pullover und hatte sich gemerkt, daß mir das schöne Himmelblau gut gefiel. Nun habe ich also ebenfalls einen.


Und da ist die neue CD von Julian und Roman Wasserfuhr, welche die beiden in Schweden mit dem Weltklasse-Posaunisten Nils Landgren produziert haben. Die beiden jungen Männer kommen aus unserer Nachbarstadt Hückeswagen. Julian, 21, spielt eine wunderbar weiche Trompete, sein Bruder Roman, 24, kongenial Klavier. Bei Roman habe ich ein wenig Unterricht gehabt, weshalb er mir die CD als "Schüler" signierte. Man spürte der Musik ab, daß die beiden sich blind verstehen und sehr fein aufeinander eingehen.














Freitag, 25. Dezember 2009

Das Weihnachtsbild (mit Ergänzung)






Von links: Matthias, Tina, Vater, Mutter, Sören, Carolin, David, Adrienne, die letzteren als Gäste vom Genfer See. Ergänzung: es fehlt, weil bei den eigenen Eltern ein paar Straßen weiter, Vanessa (hier zwischen Carolin und Tina):










Donnerstag, 24. Dezember 2009

Laß das Haus voll werden





Kurz nach Carolin und Sören kommen auch deren Schweizer Freunde Adrienne und David. Sie sind ein weiteres Glied in einer fast 90 Jahre alten Kette zwischen meiner Familie und einer Brüdergemeinde in der Nähe von Genf. Ein Großonkel lernte im Berlin der 20er Jahre den Antiquitätenhändler Moinat aus Rolle am Genfer See kennen und begann mit ihm einen lebhaften Schüleraustausch, der auch nach dem Zweiten Weltkrieg fortgesetzt wurde. Auch in unser Haus kamen Mädchen und Jungen vom Genfer See und brachten uns alpenländische Lebensfreude und die Kenntnis neuer Wein- und Käsesorten. Adrienne war vor zwölf Jahren als 17jährige hier und vertieft im Moment ihre Deutschkenntnisse zusammen mit ihrem Mann in einer Spachschule in Berlin.

Der Weihnachtsbaum nimmt Gestalt an - mit Sörens fachkundiger Hilfe. Am linken Bildrand ist der Schnee zu sehen, der uns immer noch erfreut, auch wenn er bei gestiegenen Temperaturen mittlerweile etwas pappig geworden ist.

In der Küche wirbeln Schönheiten umeinander.





Mittwoch, 23. Dezember 2009

“As an atheist, I truly believe Africa needs God”




Ein bemerkenswerter Artikel aus der London Times von Dezember 2008 - und die deutsche Überstezung von Frank Schönbach.

As an atheist, I truly believe Africa needs God
http://www.timesonline.co.uk/tol/comment/columnists/matthew_parris/article5400568.ece

Als Atheist glaube ich wirklich, dass Afrika Gott braucht

Missionare, nicht Hilfsgelder, sind die Lösung für Afrikas größtes Problem – die erdrückende Passivität im Denksystem der Menschen

Matthew Parris - The Times, 27. Dezember 2008.
(Übersetzung: Frank Schönbach, März 2009)

Vor Weihnachten kam ich nach 45 Jahren zurück in das Land, das ich als Junge unter dem Namen Nyassaland gekannt hatte. Heute heißt es Malawi, und The Times Christmas Appeal betreut dort auch ein kleines britisches Wohltätigkeitsprojekt. Pump Aid hilft ländlichen Gemeinden, eine einfache Pumpe zu installieren, die es den Leuten erlaubt, ihre Quellen im Dorf geschlossen und sauber zu halten. Ich fuhr dort hin, um dieses Projekt anzusehen.

Es hat mich begeistert und meinen nachlassenden Glauben an wohltätige Entwick-lungshilfe-Projekte erneuert. Aber die Reise durch Malawi hat einen anderen Glauben ebenfalls aufgefrischt: einen Glauben, den ich mein ganzes Leben lang zu verbannen versuchte, aber eine Beobachtung, die ich einfach nicht schaffe, zu vermeiden, seit meiner Kindheit in Afrika. Sie verwirrt meine ideologischen Überzeugungen zutiefst, weigert sich hartnäckig, sich in meine Weltsicht einzufügen und hat meine wachsen-de Überzeugung, dass es keinen Gott gibt, in peinliche Verlegenheit gebracht.

Obwohl ich mich jetzt ausdrücklich als Atheist bezeichne, bin ich doch zur Überzeu-gung gelangt, was für einen enormen Beitrag die christliche Evangelisation in Afrika leistet: scharf zu unterscheiden von der Arbeit der säkularen NGOs [non government organizations = nicht staatliche Hilfsorganisationen], staatlichen Projekte und inter-nationalen Hilfeleistungen. Diese alleine werden nichts nützen. In Afrika verändert das Christentum die Herzen der Menschen. Es bringt eine geistige Umwandlung. Die Wiedergeburt ist real. Die Veränderung ist gut.

Ich habe bisher gewöhnlich diese Wahrheit zu umgehen versucht, indem ich – wo es möglich war – der praktischen Arbeit der Missionskirchen in Afrika meinen Beifall ausdrückte. Es ist ein Jammer, so sagte ich, dass das Seelenheil ein Teil dieses Pa-kets ist, aber schwarze und weiße Christen, die in Afrika arbeiten, helfen den Kran-ken, lehren die Leute lesen und schreiben; und nur ein Säkularist der härtesten Sorte kann sich ein Missionshospital oder eine Schule ansehen und dann sagen, die Welt wäre besser ohne sie. Ich würde insoweit zugestehen, wenn denn nun der Glaube notwendig ist, um die Missionare zum Helfen zu motivieren, na ja, dann gut: Aber was zählt, ist die Hilfe, nicht der Glaube.

Aber das entspricht nicht den Fakten. Glaube bewirkt mehr, als nur den Missionar zu motivieren; er wird auch auf seine Schäfchen übertragen. Das ist der Effekt, der so immens viel ausmacht, und an dessen Beobachtung ich einfach nicht vorbei komme.

Also, zuerst einmal die Beobachtung. Wir hatten Freunde, die Missionare waren, und als Kind war ich oft bei ihnen; ich hielt mich, zusammen mit meinem Bruder, auch oft in einem traditionellen afrikanischen Dorf auf dem Land auf. In der Stadt hatten wir Afrikaner, die für uns arbeiteten, und die sich bekehrt hatten und überzeugte Gläubi-ge waren. Die Christen waren immer anders. Keineswegs wirkten diese Bekehrten irgendwie eingeschüchtert oder eingeengt, sondern ihr Glaube schien sie vielmehr befreit und entspannt zu haben. Da war eine Lebhaftigkeit, eine Neugier, ein Enga-gement für die Welt – eine Geradlinigkeit in ihrem Umgang mit anderen –, die im traditionellen afrikanischen Leben zu fehlen schienen. Sie standen aufrecht da.

Mit 24 Jahren verstärkte eine Landreise quer durch den Kontinent diesen Eindruck noch mehr. Von Algerien nach Niger, Nigeria, Kamerun und in die Zentralafrikanische Republik; dann mitten durch den Kongo nach Ruanda, Tansania und Kenia, so fuhren vier befreundete Studenten und ich in unserem alten Land Rover bis nach Nairobi.

Wir schliefen unter freiem Himmel, und deshalb war es wichtig, als wir stärker bevöl-kerte und gesetzlose Teile der Sub-Sahara erreichten, dass wir jeden Tag beim Ein-bruch der Nacht einen sicheren Platz fanden. Oft in der Nähe einer Missionsstation.

Immer wenn wir in ein Gebiet kamen, das von Missionaren bearbeitet worden war, mussten wir zugeben, dass sich in den Gesichtern der Leute, an denen wir vorbei kamen und mit denen wir sprachen, etwas verändert hatte: irgend etwas in ihren Augen, die Art, wie sie direkt auf einen zu kamen, Mann zu Mann, ohne nach unten oder zur Seite weg zu gucken. Sie waren gegenüber Fremden nicht ehrerbietiger ge-worden – in gewisser Weise sogar weniger –, aber viel offener.

Dieses Mal in Malawi war es genau das gleiche. Ich traf keine Missionare. Man be-gegnet Missionaren nicht in den Lobbies der teuren Hotels, wo sie Dokumente über Entwicklungsstrategien diskutieren, wie man es bei den großen NGOs erlebt. Aber stattdessen bemerkte ich, dass eine Handvoll der beeindruckendsten Mitglieder des Pump Aid-Teams (die meisten aus Zimbabwe) privat überzeugte Christen waren. „Privat“ deswegen, weil diese Wohltätigkeits-Organisation vollständig säkular ist, und ich nie bei irgendeinem aus diesem Team hörte, dass er so etwas wie Religion er-wähnte, während sie in den Dörfern arbeiteten. Aber ich fing sehr wohl die christli-chen Anspielungen in unseren Gesprächen auf. Einen sah ich, wie er im Auto ein An-dachtsbuch studierte. Ein anderer ging am Sonntag beim Morgengrauen in die Kir-che, zu einem zweistündigen Gottesdienst.

Es würde mir sehr gut passen, wenn ich glauben könnte, dass ihre Ehrlichkeit, Ge-wissenhaftigkeit und Optimismus bei ihrer Arbeit nichts mit ihrem persönlichen Glau-ben zu tun hätten. Ihre Arbeit war säkular, aber ganz sicher von dem beeinflusst, was sie waren. Und was sie waren, war wiederum beeinflusst von einem Konzept über den Platz des Menschen im Universum, den das Christentum sie gelehrt hatte.

Über lange Zeit war es eine Mode bei den akademischen Soziologen im Westen, die Wertesysteme der Stämme wie mit einem Zaun zu umgeben, jenseits jeder Kritik, die sich auf unsere eigene Kultur gründet: das sind „ihre“ Werte, und deshalb das Beste für „sie“; authentisch, und grundsätzlich von gleichem Wert wie unsere.

Ich kann dem nicht zustimmen. Ich beobachte, dass der Glaube der Stämme nicht friedvoller ist als unserer; und dass er die Individualität unterdrückt. Die Leute den-ken kollektiv; zuerst in Begriffen der Gemeinschaft, der Großfamilie und des Stam-mes. Diese ländlich-traditionelle Denkweise ist der Nährboden für die Politik des „großen Mannes“ und der Gangster in den afrikanischen Städten: der übertriebene Respekt für einen aufgeblasenen Führer, und die (buchstäbliche) Unfähigkeit, die Idee einer loyalen Opposition überhaupt zu verstehen.

Ängstlichkeit – Furcht vor bösen Geistern, vor den Ahnen, der Natur und dem Wil-den, der Hierarchie im Stamm, oder ganz alltäglichen Dingen – prägt tief die gesam-te Struktur des ländlichen afrikanischen Denkens. Jeder Mann hat seinen Platz, und, ob man es Furcht oder Respekt nennen mag, eine große Last unterdrückt den indivi-duellen Geist und hemmt die Neugier. Die Leute werden keine Initiative ergreifen, werden die Dinge nicht in ihre eigenen Hände oder auf ihre eigenen Schultern neh-men.

Wie kann ich, als jemand, der mit einem Fuß in beiden Lagern steht, das erklären? Wenn ein philosophischer Tourist sich von einer Weltanschauung in eine andere be-wegt, bemerkt er – in dem Augenblick, wenn er in die neue eintritt –, dass er die Sprache verliert, um diese Landschaft seiner alten Welt zu beschreiben. Aber lassen Sie es mich mit einem Beispiel versuchen: Die Antwort, die Sir Edmund Hillary gab auf die Frage: Warum steigen sie auf den Berg? „Weil er da ist,“ sagte er.

Im ländlichen afrikanischen Denken wäre das eine Erklärung dafür, warum jemand den Berg nicht besteigen will. Er ist... na ja, eben da. Einfach da. Warum sollte man etwas unternehmen? Es gibt nichts, was man deswegen oder damit tun müsste. Hil-lary’s weitere Erklärung, – dass niemand ihn bisher bestiegen hat –, würde als ein weiterer Grund für die Passivität herhalten.

Das Christentum, nach der Reformation und nach Luther, mit seiner Lehre von einer direkten, persönlichen und zweiseitigen Verbindung zwischen dem Individuum und Gott, nicht durch das Kollektiv vermittelt, und nicht irgend einem anderen menschli-chen Wesen untergeordnet, zerschmettert das philosophisch-spirituelle Bezugssy-stem, das ich eben beschrieben habe, vollständig. Es bietet denen, die ängstlich sind, das erdrückende Gruppendenken des Stammes aufzugeben, etwas an, an dem sie sich festhalten können. Deshalb und auf diese Weise wirkt es befreiend.

Diejenigen, die möchten, dass Afrika im globalen Wettbewerb des 21. Jahrhunderts mithalten kann, sollten sich nicht selbst zu Narren machen und annehmen, dass die Bereitstellung von Material oder sogar von Knowhow, das mit dem einher geht, was wir Entwicklung nennen, eine Veränderung auslösen werden. Ein ganzes Glaubenssy-stem muss zuerst ersetzt werden.

Und ich fürchte, es muss von einem anderen ersetzt werden. Wenn man aus der afrikanischen Gleichung die christliche Evangelisation heraus nimmt, wird man wohl den Kontinent einer bösartigen Verbindung von Nike, dem Zauberdoktor, dem Mobil-telefon und der Machete ausliefern.



Dienstag, 22. Dezember 2009

Das Museum der Unschuld






Meinen frommen muslimischen Freunden wird der neue Roman von Orhan Pamuk nicht sofort gefallen. Zuviel Rakı-Schnaps wird darin getrunken, zuwenig wahre Unschuld gibt es, was die Zeit von Braut und Bräutigam vor der Ehe betrifft. Die westlich orientierte Istanbuler Gesellschaft von 1975, dem Jahr, in dem der Roman beginnt, lebt ein freies Leben und wundert sich über die Kopftuch tragenden Frauen aus der türkischen Provinz in ähnlicher Weise wie es die Berliner heute tun. Die Freude an einem nach den Vorschriften des Korans gelebten Leben ist vordergründig nirgends im Buch zu finden.

Und trotzdem empfehle ich Nureddin und Hasan und Fatih und den anderen gläubigen Männern, das Buch zu lesen. Eine seiner Hauptfiguren ist die Stadt Istanbul, und das Leben dieser Stadt und die Veränderungen, die besonders die frommen Einwanderer vom Land herbeiführen, sind als Bühnenbild ein wunderbar lebendiger Hintergrund des Buches. Manchmal könnte es sogar eine heimliche Liebeserklärung an das neue, nicht mehr von den kemalistischen Eliten regierte Istanbul sein, das sich in der Zeit heranbildet, in der das Buch spielt. Der heutige Premier Erdogan, etwa gleich alt wie Pamuk, baut in den 70er Jahren seine Karriere in Istanbul auf und wird dann mit nur 40 Jahren überraschend Oberbürgermeister dieser Stadt, mit einer Kopftuch tragenden Frau an seiner Seite.

Von Erdogan wird nichts erzählt, aber daß am Ende die Unschuld ein Museum erhält, nicht die Freizügigkeit, setzt ein deutliches Zeichen. Die Unschuld wird in gewisser Weise im Verlauf der Geschichte zurückgewonnen, nachdem sich zu Beginn die Hauptfigur, Kemal Basmacı, in eine leidenschaftliche und sittenlose Dreiecksbeziehung zu der vornehmen Sibel und der schönen Füsun verirrt.

Das Buch bewegt sich entlang der zwei langen Spannungsbögen, die Pamuk sauber anhand der beiden Liebesverhältnisse aufbaut. Der zweite Bogen löst sich erst ganz spät auf, genau: auf Seite 519 von insgesamt 565 Seiten. Der Leser wird auf angenehme Weise in suspense gehalten und begleitet die allesamt lebensvollen und durchaus sympathischen Hauptfiguren mit Anteilnahme und Verständnis.

Ich möchte potentiellen Leser nicht vorab verraten, wie die Geschichten mit Sibel und Füsun schließlich ausgehen, will aber doch soviel sagen, daß Kemal einen Prozeß durchmacht, der ihn am Ende zwar nicht im weißen Kleid der Unschuld dastehen läßt, es aber doch möglich macht, daß er sein Museum der Unschuld gründen kann. Der Roman ist als Führung durch dieses Museum angelegt und unterbricht sich an vielen Stellen, etwa um zu sagen: in dieser Vitrine sehen Sie die Schuhe, die Füsun trug, als sie zu der Feier ging, von der ich gerade berichte.

Einer von Kemals reichen Freunden, der seine Jugend in der Gesellschaft leichter Mädchen verbracht hat, verlobt sich mit einer Studentin, die ebenfalls während ihres Studiums in Frankreich den dortigen Sitten entsprechend freizügig gelebt hat. Die beiden leben erstaunlicherweise mehrere Jahre wie ein traditionelles Verlobungspaar zusammen und schlafen erst nach der Hochzeit miteinander. Man erfährt die Gründe für einen solchen Sinneswandel nicht, aber man spürt, daß es eine unterschwellige Bewegung in der Gesellschaft gibt, hin zu den Werten der rätselhaften Kopftuchleute vom Lande. Das betrifft allerdings nicht den Konsum von Rakı, der wird bis zum Ende des Buches unverändert hochgehalten.

Die Stadt Istanbul ist dabei mehr als nur ein Bühnenbild. Sie wird im Laufe des Buches mehr und mehr zur vierten Hauptperson, jedenfalls in meiner Sicht. Die mag davon beeinflußt sein, daß ich vier Jahre vor dem Beginn der Handlung, also 1971, nur etwa 500 m von der Valikonaği Straße, in der wesentliche Teile des Buches spielen (und in der Orhan Pamuk aufgewachsen ist) entfernt gelebt habe. Ich war für zwei Monate in einem Studentenheim in der nahen Kodaman Straße untergebracht und bin morgens auf dem Weg zur Arbeit an Pamuks Haus und an dem fiktiven Ort des Appartements von Kemal Basmacı vorbeigefahren. Ich kann die vielen Fahrten durch die Stadt, die im Buch beschrieben werden, weitestgehend ohne Zuhilfenahme eines Stadtplans verfolgen, kann mir die Restaurants am Bosporus in Erinnerung rufen und weiß, welche Strömung die Romanfiguren erwartet, wenn sie bei Tarabya im Bosporus schwimmen gehen.

Es ist eine lebendige, liebenswürdige Stadt, von der es am Ende heißt, die Liebesgeschichte von Kemal, Sibel und Füsun solle über sich selbst hinausweisen und aufzeigen, daß es nicht nur um die Geschichte von Verliebten geht, sondern um die Geschichte einer ganzen Welt, nämlich die Geschichte von Istanbul. Es lohnt sich, in diese Welt einzutreten.








Sonntag, 20. Dezember 2009

Bleak Midwinter




(English translation below) Der plötzliche Wintereinbruch hat uns mit Macht erfaßt, der geplante Konzertbesuch im Altenberger Dom (Weihnachtsoratorium) mußte wegen verschneiter und verstopfter Straßen aufgegeben werden. Hier liegt mittlerweile über 15 cm Schnee.


Zu Eis und Schnee paßt Jesu Geburt, oder anders gesagt: die nordeuropäischen Christen haben in vielfältiger Weise das Geschehen um Jesus in ihre eigene regionale Vorstellungswelt übernommen, weshalb Jesu Geburt hier bei uns als winterliches Ereignis "im kalten Stall" vorgestellt wird.

Ich widme diesen post einigen muslimischen Freunden und auch das folgende schöne Winter- und Geburtslied, das seit Jahren zum Weihnachten unserer Familie gehört. Mir ist bewußt, daß sie die herausgehobene Rolle, die der von ihnen als hoher Prophet verehrte Jesus hier spielt, anders sehen als ich, aber ich weiß, daß ihnen das schlichte Ende des Liedes gefallen wird. Der Text ist unten in Englisch und Deutsch angefügt.

The sudden arrival of winter keeps us in its mighty grip. We had to cancel our plan to visit a concert in Altenberg Cathedral (Christmas Oratory), the streets were covered with snow and blocked. In the meanwhile we have more than 6 inches of snow.

Ice and snow go along well with the birth of Jesus Christ, or better: the Northern European Christians have in manifold ways transposed the events around Jesus into their own regional imaginations. That is why the birth of Jesus here is thought as happening in winter, “in a cold stable”.

I dedicate this post to some Muslim friends, and the following song, too. It is a lovely song of winter and birth that belongs to our family’s Christmas since many years. Although I am aware that my friends see the outstanding role that Jesus – their highly estimated prophet – plays here different from me, I nevertheless know that they will like the humble end of the song. The text is added below.










In the bleak midwinter
Frosty wind made moan,
Earth stood hard as iron,
Water like a stone;
Snow had fallen, snow on snow,
Snow on snow,
In the bleak midwinter,
Long ago.

Our God, heaven cannot hold him,
Nor earth sustain;
Heaven and earth shall flee away
When he comes to reign;
In the bleak midwinter
A stable place sufficed
The Lord God incarnate,
Jesus Christ.

Enough for him, whom Cherubim
Worship night and day
A breast full of milk
And a manger full of hay.
Enough for him, whom angels
Fall down before,
The ox and ass and camel
which adore.

What can I give him,
Poor as I am?
If I were a shepherd
I would bring a lamb,
If I were a wise man
I would do my part,
Yet what I can I give Him —
Give my heart.


Mitten im kahlen Winter
Frostiger Wind klagte,
Der Boden hart wie Eisen,
Wasser wie ein Stein;
Schnee war gefallen, Schnee auf Schnee,
Schnee auf Schnee,
Mitten im kahlen Winter
Vor langer Zeit.

Unser Gott, der Himmel kann ihn nicht fassen
Und die Erde nicht halten;
Himmel und Erde werden vergehen,
Wenn er zu regieren beginnt;
Mitten im kahlen Winter
Genügte ein Platz im Stall
dem Mensch gewordenen Herrn und Gott
Jesus Christus.

Genug für ihn, dem Cherubin-Engel
Bei Tag und Nacht dienen:
Eine Brust voll Milch
Und eine Krippe voll Heu.
Genug für ihn, vor dem Engel
Niederfallen:
Ochse, Esel und Kamel,
Die anbeten.

Was kann ich ihm geben,
Arm wie ich bin?
Wäre ich ein Hirte
brächte ich ein Lamm,
wäre ich ein Weiser,
würde ich meinen Anteil geben.
Aber was ich kann, gebe ich ihm -
gebe ihm mein Herz.


Samstag, 19. Dezember 2009

Home for Christmas




(English translation below) Die ersten heimkommenden Kinder samt Freundin und Freund werden am Kamin mit Croque Monsieur begrüßt. Die Pfannen, die man ins Feuer hält, hat mein Vater in den 60er Jahren aus Frankreich mitgebracht. Unsere Familie glaubt fest, daß wir das einzige Haus in Deutschland sind, in dem es Croque Monsieur am offenen Feuer gibt.





The first homecoming children with their friends are welcomed with croque-monsieur by the fireside. My father brought the little pans that bake the croques in the open fire from France in the Sixties. My family firmly beleives that we are the only house in Germany that serves croques-monsieur from the open fire.

















Donnerstag, 10. Dezember 2009

Der schutzlose Islam


Mein Freund Nureddin tut mir manchmal Türen auf, hinter denen ich ein Stück türkische Wirklichkeit ganz aus der Nähe sehen darf. An manchen Tagen habe ich dann das Gefühl, der einzige Deutsche zu sein, dem diese Wirklichkeit gezeigt wird. Aber das ist natürlich eine Illusion. Allerdings war ich vor ein paar Tagen immerhin der einzige sozusagen eingeborene Deutsche in einer Runde von vielleicht etwa 150 deutschen Türken, die zu einem Konzert zusammengekommen waren.

Sonntag, 6. Dezember 2009

Herta Müller






Herta Müller würde vermutlich nichts dagegen haben, wenn man sagt, daß man sich durch ihre Bücher durchquälen muß. Ihr neuestes Buch Atemschaukel spielt in einem russischen Arbeitslager, das erinnert an Solschenyzin, den liest man ja auch nicht flüssig herunter, sondern eher mit Schmerzen. Die Sammlung von Essays Der König verneigt sich und tötet erzählt gleich zu Beginn von ihrer Kindheit, in der sie ein von intensiven, teils angstvollen Gedanken getriebenes Mädchen ist, das die grundlose Angst als klarsten Erweis der eigenen Existenz zu begreifen lernt.


Augenblicke der grundlosen Angst kommen der Existenz am nächsten, diese Erklärung findet sie später bei dem rumänisch-französischen Philosophen Emil Cioran. Einer ihrer Studentenfreunde muß sich auf die Finger beißen, um sich seines Daseins zu vergewissern. Leben ist mit Schmerz verbunden und wird erst im Schmerz seiner selbst gewiß.

Das Leben als Schriftsteller ist zusätzlichen Schmerzen ausgesetzt, weil es mit Worten arbeitet und weil sich die Worte als sperrig und eigensinnig erweisen. Ein Kapitel im Lagerbuch handelt vom Meldekraut (mit etwas googeln findet man: Atriplex hortensis, die Gartenmelde), das die hungrigen Gefangenen am Wegrand pflücken und essen. Der Name MELDEKRAUT ist ein starkes Stück und besagt überhaupt nichts, wird dazu gesagt.


In den Kindheitserinnerungen versucht Herta Müller einem anderen Kraut, der Milchdistel (laut Google Silybum marianum, Mariendistel) neue Namen wie "Stachelrippe" oder "Nadelhals" zu geben, denn der Name war der Pflanze nicht recht, sie hörte nicht drauf. Auch solche Wortfindungen sind eine Qual, von der Herta Müller sagt, man könne duch die Lücke zwischen Wort und Gegenstand hindurch schauen und ins Nichts starren.

Das Nichts starrt einen bei Herta Müller immer wieder an, es ist offenbar ihr Wille, daß man als Leser diesem Blick ausgesetzt wird. Trost in einer unsichtbaren Welt, die sich hinter dem Nichts auftun könnte, wird nirgends angeboten. Im Gegenteil - auch das Abendgebet der frommen Großmutter führt geradewegs in eine sprachliche Sackgasse, an deren Ende der Glaube nicht weiterkommt. Bevor ich mich zur Ruh begeb/, zu dir, oh Gott, mein Herz ich heb - das stellt das Kind Herta Müller vor die Frage, wie hebt man das Herz durchs Haar über eine dicke Zimmerdecke zu Gott?


Solcherlei Problem im Schnittpunkt von Sprache und Vorstellung sind anrühend, aber in der Summe eigentlich nur eine weitere Qual, der uns Herta Müller aussetzt. Muß man sich so quälen und quälen lassen? Ist es nicht eher willkürlich, wenn man im Fall des Gebetes die Sprache beim Wort nimmt (und damit den lieben Gott undenkbar macht), aber sie in der Folge dann immer wieder im luftleeren Raum schweben läßt (und den Dingen ihre Bezeichnung nimmt)?

Ich habe mich in den letzten Tagen mit dem Freund und Kollegen vom Varia-Blog über dunkle und helle Schriftsteller ausgetasucht, eine Unterscheidung, die er so nicht gelten läßt. Mag sein, daß er recht hat und daß der eher dunkel gestimmte Autor oft ins Helle blickt und umgekeht. Mag auch sein, daß die christliche Vorstellung von einem sterbenden Gottessohn ein für alle mal den dunklen Blick begründet. Aber mir ist wieder neu der verstorbene John Updike lieb geworden, der in einem seiner posthum als Sammlung veröffentlichten Essays auf die verwegene Idee kommt, der Gottesname JHWH stände in einer frühen Vorstellung einfach insgesamt für die Welt, so wie sie ist*.


Ich glaube, es ist nicht falsch, dies als das genaue Gegenteil von der Welt Herta Müllers anzusehen. Und ich glaube, es ist erlaubt, sich für die Welt Updikes zu entscheiden.





* An impression grew on me, ..., that to the ancient Hebrews "God" was simply a word for what was: a universe often beautiful and gracious but also implacable and unfathomable. (The Great I Am)

Ein Eindruck wuchs in mir, daß für die alten Hebräer "Gott" einfach ein Wort war für das, was war: ein Universum, oft schön und gnädig, aber auch unversöhnlich und unergründlich.








Samstag, 5. Dezember 2009

Minarette in der Schweiz




Mit etwas zeitlichen Abstand zu dem von vielen Leuten zu Recht als schändlich empfundenen Schweizer Volksentscheid ist es vielleicht möglich, sich dem an sich ja sehr sympathischen und weltoffenen Volk der Schweizer erneut in Freundschaft zu nähern. Es könnte nämlich sein, daß die Schweizer zu entschuldigen sind, weil sie sich mit ihrem "wir wollen keine Minarette erlauben" gewissermaßen kollektiv versprochen haben. Sie wollten offenbar etwas anderes sagen, so wird jedenfalls mehr und mehr berichtet, und wenn das so ist, muß man es in gewissen Grenzen verstehen und verzeihen. Vor allen Dingen erscheint es ratsam zu sein, über dieses Andere, das gesagt werden wollte, miteinander zu reden. Jedenfalls würde ich, wenn ich Moslem wäre, die Gelegenheit zu einem solchen Gespräch nicht ungenutzt lassen.

Schon kurz nach dem Bekanntwerden der Ergebnisse wurde deutlich, daß man in der Diskussion vor der Wahl wenig über Minarette und dafür viel über Zwangsheiraten, Ehrenmorde und anderes gesprochen hat, also über Dinge, die man in weiten Teilen der Bevölkerung als eine eher unsympathische Kehrseite des Islams ansieht. Die freie Ausübung der Religion stand offenbar nicht zur Debatte, auch nicht der Bau von Gotteshäusern. Man wollte, wie ich irgendwo gelesen habe, insgesamt etwas gegen den "politischen Islam" unternehmen, einen gewaltbereiten Islam, dessen äußere Zeichen eben die Minarette seien, weshalb sie verboten gehörten.

Nun sind die Minarette genausowenig die Zeichen eines gewaltbereiten Islams wie die Kirchtürme Zeichen einer Kreuzfahrergesinnung der Christen sind. Gegen einen "politischen Islam" (den man allerdings noch etwas genauer definieren müßte), sind viele meiner moslemischen Freunde hier in Deutschland genauso wie die Schweizer, genauso wie ich gegen Kreuzfahrertum bin.

Hier sehe ich deshalb die Möglichkeit, nach dem ersten Ärger und dem Eindruck, es fände ein Kampf der Faschisten gegen die neuen Juden Europas statt, aufeinander zu zu gehen und sich gegenseitig einmal genauer zu erklären, was die Ängste der einen Seite und die Pläne der anderen sind.

Es gibt nach meiner Beobachtung ein gewachsenes Interesse der "Alteingesessenen" am Glauben der zugewanderten Moslems. Zum Teil setzt sich dieses Interesse aus Ängsten und Vorurteilen zusammen, aber es ist nicht zu bestreiten, daß die Alteingesessenen nach und nach begreifen, daß ein nicht unerheblicher Teil ihrer Mitbürger einen festen und fröhlichem Willen hat, in diesem Land zu leben und dabei gleichzeitig den Vorschriften des Korans zu folgen. Wenn nach einer ersten Welle der Skepsis mehr und mehr gesehen wird, daß dieser Wille sich auch in gelungene Lebensäufe umsetzen läßt, dann wird man über Minarette nicht mehr reden müssen.

Es wäre in diesem Sinne schön, wenn das Reden miteinander, das ja glücklicherweise schon lange begonnen hat, jetzt verstärkt fortgesetzt wird.



Dienstag, 1. Dezember 2009

Bibellese




"Was liest die Christenheit derzeit?" frage ich manchmal meine Frau morgens beim Frühstück, und wir schauen gemeinsam in der Zeile unter den Losungen nach, was die Ökumenische Arbeitsgemeinschft für das Bibellesen (ÖAB) auf dem Plan hat. Zur Zeit ist die Antwort: Thessalonicherbriefe!

Ich habe den ersten der beiden Briefe mit Freuden gelesen und etwas darüber geschrieben, was an Norbert Baumerts Kommentaren zu den Korintherbriefen geschult ist.



Donnerstag, 26. November 2009

Mein Freund Nureddin feiert






Wenn es ein islamisches Fest gibt, das die Familien in ähnlicher Weise zusammenführt wie Weihnachten bei uns, dann ist es das morgen, am 27. November beginnende Opferfest. Eigentlich hätte Nureddin in die Türkei fliegen sollen, um seine Eltern zum Fest zu besuchen, aber die sind nun ihrerseits gekommen, gestern schon, um mit ihren drei in Deutschland lebenden Kindern und deren Familien zu feiern. Man muß solche Reisen um das Opferfest herum sehr frühzeitig planen, weil Flugzeuge und Eisenbahnen bis auf den letzten Platz ausgebucht sind.

Nureddin und seine Verwandten werden sich morgen festlich anziehen und zwei Stunden nach dem Morgengebet in die Moschee gehen. Danach werden in kleineren dörflichen Gemeinschaften die Opfertiere an Ort und Stelle geschlachtet, meistens einjährige Schafböcke oder Ziegen. Manchmal teilen sich auch mehrere Familien ein großes Rind. In industriellen Regionen geht die Schlachtung anders vonstatten. Nureddin hat bei einem deutschen Bauern im Raum Köln für € 200,- ein Schaf erstanden und einen deutsch-türkischen Dienstleister beauftragt, das Schaf abzuholen, für die veterinärmedizinisch überwachte Schlachtung zu sorgen und das Fleisch in Portionen aufgeteilt in Nureddins Haus zu liefern. Dort wird man einen Teil davon morgen und in den Tagen danach essen.

Das Opfer soll an das berühmte, in der Bibel wie im Koran berichtete Opfer des Erzvaters Abraham erinnern, dem es Gott erlassen hatte, seinen Sohn zu töten, und einen Widder an dessen Stelle akzeptierte. Mohammed hat seinen Nachfolgern ein jährliches Opfer geboten und damit an die jüdische Tradition angeknüpft, die von den Christen aufgegeben bzw. durch symbolische Opfer ersetzt wurde.

Das Opfern verbindet die Moslems in der ganzen Welt untereinander und dabei in besonderer Weise mit den in diesen Tagen in Mekka versammelten Pilgern, die dort ebenfalls das Opferfest feiern und nach mehreren Tagen, die mit verschiedenen Ritualen gefüllt sind , am Ende mit dem Vollzug des Opferfestes zum Hadschi werden.

Ein solcher Hadschi kann man ausschließlich durch die Pilgerfahrt im Monat Dhu l-hiddscha, dem "Pilgermonat", werden. Es ist der zwölfte Monat im Mondkalender der Moslems und lag in den letzten Jahren im Winter oder im späten Herbst. Er verschiebt sich jährlich um elf Tage nach vorne, wird also in etwa zehn Jahren im Sommer liegen. Der Fastenmonat Ramadan ist der neunte Monat. Das Ramadanfest an seinem Ende konkurriert in der Wichtigkeit mit dem Opferfest, welches etwa 70 Tage später, am 10. Dhu l-hiddscha stattfindet.

In Mekka ist wegen der jährlich steigenden Pilgerzahlen, die mittlerweile in Richtung 3 Millionen gehen, ein persönliches Tieropfer nicht möglich, vor allen Dingen keines, das man an Ort und Stelle verzehren kann. Nureddin, der selbst schon auf Pilgerfahrt war und davon auf eine mich sehr anrührende Weise berichten kann, sagt mir, daß man in den dafür vorgesehenen großen Einrichtungen in Mekka gegen einen Geldbetrag schlachten und das Fleisch als Armenspende per Tiefkühlcontainer in die Dritte Welt versenden läßt.

Ein Drittel des Fleisches soll - unabhängig ob persönlich geschlachtet oder über eine Institution wie Mekka verarbeitet - bedürftigen Menschen zugute kommen. Das sind in einer dörflichen Umgebung die ärmeren Nachbarn, in der weltweiten islamischen Familie die Menschen der ärmeren Länder. Nureddin hat auch in diesem Jahr Sorge dafür getragen, daß Freunde von ihm in Kenia zwei weitere Schafe auf Nureddins Kosten besorgen und schlachten, deren Fleisch dort an notleidende Familien verteilt wird.

Nureddins Kinder freuen sich auf dieses Fest, sie haben schulfrei bekommen, das ist mittlerweile nach deutschen Gesetzen auf Antrag möglich. Sie werden auch, ähnlich wie die Christenkinder an Weihnachten, Geschenke erhalten. Nureddin selbst kann nur einen halben Tag frei nehmen, er ist selbstständig und muß am Freitagnachmittag bereits wieder an seine Arbeit gehen. An den Tagen danach geht das Fest allerdings weiter, man besucht sich gegenseitig, tauscht Geschenke aus und läßt es, wie wir sagen würden, ein bißchen Weihnachten werden.

Auf Türkisch heißt ein Fest Bayram und das Opferfest Kurban Bayramı. Iyi steht für gut, und so grüße ich Nureddin und alle in seinem Haus versammelten von dieser Stelle mit einem herzlichen Iyi Bayramlar! Etwas ausführlicher kann man es wie unter dem nebenstehenden Bild stehend sagen, welches mir Nurredin freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat - zusammen mit dem mit roten Bändern geschmückten, dem Tod mutig und entspannt entgegensehenden Tier weiter oben.




Mittwoch, 11. November 2009

Türkeireise


(Die deutsche Übersetzung meiner Posts, die zunächst im englischen Blog zu finden waren)


In Richtung auf das Paradies
Remscheid, 12. Oktober 2009

Alte Weltkarten zeigen das Paradies im Quellgebiet der Flußläufe von Euphrat und Tigris. Dort werden wir ab dem 20. Oktober sein und fahren mit entsprechend gro-ßen Erwartungen in die östliche Türkei. Unsere Reise wird in der Stadt Van in der Nähe des Berges Ararat beginnen und uns entlang der irakischen und syrischen Grenze über Mardin und Urfa bis in die Stadt Gaziantep führen, nicht weit entfernt von der nordöstlichen Ecke des Mittelmeers.


Die beiden Flüsse Euphrat und Tigris versorgen ein uraltes Siedlungsgebiet mit Wasser, das Land Mesopotamien. Es bildet die östliche Hälfte des fruchtbaren Halbmondes, der sich von Ägypten über Israel und Syrien bis in den heutigen Irak zieht.

Die Bibel erzählt, daß Mesopotamien mit Wasser aus dem Paradies versorgt wird. Ein Strom geht laut Genesis 2 aus dem Paradies und teilt sich in die vier Arme Pischon, Gihon, Hiddeqel und Perat. Letztere beiden werden als Tigris und Euphrat identifiziert und klingen im Türkischen (Dicle und Fırat, gesprochen Ditsch-leh und Ferat) auch noch etwa so wie in der Bibel.

Das Paradies ist auch in der Vorstellung des Korans ein reiches Wasserreservoir. Meine alte Übersetzung von Henning wiederholt an mehreren Stellen, es sei "durcheilt von Bächen". Die Vorstellung der Bibel entspricht dem also: die Quelle eines Stroms, welcher die Welt mit Wasser versorgt.

De Bibel beginnt nicht nur mit der Vorstellung eines solchen Stroms, sie endet auch damit. In ihrem letzten Kapitel, Offenbarung 22, heißt es in den alten Worten Martin Luthers:

Und er zeigte mir einen Strom lebendigem Wassers, klar wie ein Krystall, der ging aus von den Stuhl Gottes und des Lammes.


A River Runs Through It (Aus der Mitte entspringt ein Fluß) ist der Titel eines mir sehr lieben Filmes, der von zwei Brüdern handelt, die in einem Fluß in Montana / USA Fliegenfischen gehen. Der Film lebt von der Schönheit, die fließendes Wasser überall da erzeugt, wo es klar und mit ruhiger Kraft daherströmt. Ähnlich muß es im Paradies ausgesehen haben. Werden wir eine Ahnung davon bekommen, wie es war, vor Anbeginn der Zeit?


Große Erwartungen
Remscheid, 14. Oktober 2009

Läßt man die sicherlich unrealistischen Erwartungen, in der Osttürkei Spuren des Paradieses zu finden, einmal beiseite, so gibt es doch einige andere Erwartungen, die im Gegensatz dazu erfüllbar erscheinen. Man könnte sie unter dem Stichwort "grüne Demokratie" zusammenfassen. Ich erhoffe mir, auf unserer Reise Menschen zu treffen, welche in gleicher Weise fromme Moslems und moderne Bürger dieser Welt sind. Unsere Reise wird veranstaltet von deutschen Türken, die Mitglieder der weltweiten Gülen-Bewegung sind. Sie haben Kontakte zu anderen Mitgliedern vor Ort und werden uns mit diesen zusammenbringen.

Sie sind Gläubige, die sich von dem türkischen Philosophen Fethullah Gülen inspirieren lassen. Ihn, einen sanften, zurückgezogen lebenden Mann, haben im Jahre 2008 die Leser des amerikanischen Magazins Foreign Policy in einer Liste der "100 Top-öffentlichen Intellektuellen" der Welt an die erste Stelle gesetzt.



Gülen ist 68 Jahre alt und lebt in Pennsylvania / USA. Seine Inspiration hat den Leiter unserer Reise, meinen Freund Nureddin Öztaş dazu ermutigt, sein Leben als ein frommer Moslem zu führen, das mit Fasten, Pilgerfahrt und fünf täglichen Gebeten erfüllt ist und das er sehr bewußt in der Gegenwart Gottes führt. Damit die Welt sich mehr und mehr mit dieser Gegenwart füllt, befördert Gülen vor allen Dingen eins: eine gute Schulbildung für möglichst viele Menschen. Die Moslems sollen nach seinem Willen auf die intensivste Weise studieren und so auf einen Weg kommen, der sie an die Spitze der modernen Forschung führt. Für Gülen gibt es dabei keine Tabus, was die Grenzen der Forschung betrifft. Er glaubt fest daran, daß Gott als der Schöpfer aller Dinge jederzeit auch als Ursache hinter allen Erscheinungen erkennbar sein wird. Gülen sagt: der Forscher wird überall Gottes Spuren finden.

Von Gülen-Anhängern betriebene Schulen gibt es mittlerweile in der ganzen Welt, und ergänzend dazu kleinere Institutionen, die Nachhilfe für schwächere Schüler anbieten. Mit einer solchen Nachhilfe-Schule hat Nureddin vor einigen Jahren auch in seiner deutschen Heimatstadt begonnen. Mittlerweile ist dort, im Raum Köln, auch eine richtige Schule in Planung und soll, wenn alle behördlichen Auflagen erfüllt sind, bereits in den nächsten Wochen starten.

Fethullah Gülen lehrt, daß die Beachtung moslemischer Regeln einem Leben in der modernen Gesellschaft nicht widerspricht. Er ermutigt die Moslems auch, Kontakt zu Christen, Juden und allgemein zu Menschen anderer Religionen zu suchen und von ihnen zu lernen. Nureddins Freundschaft zu mir wurzelt in dem Optimismus, den er von Fethullah Gülen bezieht. Ohne Gülen wären wir nicht zusammen auf dieser Reise in die Osttürkei. Nureddin hat mich ganz offensichtlich gerade deshalb gerne, weil ich ein engagierter, regelmäßig zur Kirche gehender Christ bin, nicht obwohl ich es bin.

Meine Erwartung ist es, konservative Muslime mit einem offenen Herzen für ein modernes Leben in dem Regelwerk einer offenen Gesellschaft zu finden. Worte wie "liberal" oder "westlich" oder "demokratisch" sind in diesem Zusammenhang viel-leicht ein wenig abgenutzt. Sie geben aber trotzdem eine Vorstellung von dem wieder, was viele Menschen auf der ganzen Welt suchen. Wenn sie diese Suche mit einem tieferen Verlangen nach einem spirituellen Fundament verbinden, muß dies nicht notwendig zu Widersprüchen führen.


In der Türkei hat es eine lange Phase gegeben, in der die Regierung einseitig eine streng säkulare Linie vertreten hat. Man hat damals wohl gefürchtet, daß der Glaube eher hinderlich sein würde auf dem Weg, eine moderne, westliche Demokratie zu entwickeln. Heute hat sich die regierende AKP sehr viel stärker religiösen Einflüssen geöffnet und dabei versucht, das Argument der Säkularisten durch verstärkte demokratische Reformen zu entkräften. So wurden etwa in den letzten Monaten die Kurden immer stärker als eine ethnische Minderheit anerkannt, zum ersten Mal in der Geschichte der türkischen Republik. Die Armenier werden neu als Nachbarn willkommen geheißen, am vergangenen Samstag wurde in Zürich ein Vertrag unterzeichnet (Foto oben), nach dem es unter anderem wieder möglich sein soll, die gemeinsame Grenze zu öffnen. Insgesamt hat die AKP die Auflagen der Europäischen Union, was bessere Bürgerrechte betrifft, recht klaglos zu erfüllen versucht. Man hat diese Auflagen nicht als lästige Pflichten auf dem Weg zu einer ökonomischen Einheit angesehen, sondern als Chance für eine innere Erneuerung.

Insgesamt ist weltweit einiges an moslemischer demokratischer Reform auf dem Weg. Meine Hoffnung ist es, lebendige Spuren davon auch in Ostanatolien zu finden.


Keilschrift und Kirgisische Reiter
Van, 17. Oktober 2009

Es ist ein heller Tag, an dem man den schneebedeckten Berg Ararat gut am Horizont. erkennen kann. Die frühe Maschine der Türk Hava Yollari, die uns in zwei Stunden von Istanbul nach Van bringt, fliegt eine große Kurve über den See und landet auf dem Flughafen der Stadt. Mit einer Höhe von etwa 1.700 m ist der Van-See so hoch gelegen wie die Bergseen in der Nähe von St. Moritz und Sils Maria im Oberengadin.

Die kahlen Berge um die Stadt herum sind eindrucksvoll, wir fahren etwa 20 km in Richtung persische Grenze und besuchen die Reste einer Festung, welche aus der Zeit der ältesten Kultur stammen, die hier in dieser Gegend ihre Spuren hinterlassen hat. Es sind die Urartier, ein Volk das dem dominierenden Berg dieser Region seinen Namen gegeben hat, Urartu und Ararat haben dieselbe Wurzel.


Am Eingang zur Burganlage verkauft ein alter Mann Steine mit feinen, sauberen Gravierungen darauf, in der Schrift der Urartier, die später, wie wir erfahren, auch die Schrift der Hetiter, Assyrer und anderer wurde. Ja, es ist "Keilschrift", sagt er in Türkisch, er kennt das Wort für "cuneiform", wie es in Englisch heißt, und er ist ein großer Experte in dieser Schrift. Die akkurat hergestellten Steine hat er selbst beschriftet und erzählt uns, daß er, Mehmet Kuşman, einer von den nur noch 36 Menschen in der Welt ist, die diese alte Schrift flüssig lesen und schreiben können. Noch vor wenigen Jahren waren es 38, als Mehmet Hoca einer Einladung nach Kalifornien gefolgt ist, um dort die Weltelite der Keilschrift-Experten zu treffen. Zwei Russen sind mittlerweile gestorben, und so bleiben der Welt nur noch 36 Weise, Mehmet Kuşman eingerechnet.


Die Festung ist wunderschön gelegen, hoch über einer tellerflachen fruchtbaren Ebene, an deren Rand hohe Berge aufragen. Von den Gipfeln ist es nur noch wenige Kilometer bis zur Grenze Persiens, von wo im laufe der Geschichte immer wieder Soldaten herüberkamen, um die Herrschaft über das reiche Land am Ufer des großen Sees für ihre Könige zu reklamieren.

Wir haben später, beim Besuch einer weiteren Burganlage, die den südlichen Teil der Stadt Van überblickt, das Glück, Zeuge einer großen kurdischen Hochzeit zu werden. Sie wurde offenbar eigens zu dem Zweck arrangiert, von einem großen Team des türkischen Fernsehens gefilmt zu werden. Es ist eine richtige Hochzeit, auch wenn Braut und Bräutigam

Schauspieler sind. Alles andere aber ist echt - die farbenprächtigen Kostüme der tanzenden jungen Leute, die Pferde und Gewehre der kirgisischen Reiter, die über dem offenen Feuer brutzelnden Schafe.

Die kirgisischen Gesichter erzählten uns Geschichten von Ländern weit östlich von hier. Sie sind aber auf eine eigenartige Weise nicht fremd in dieser Gegend, obwohl sie für uns schon fast an China erinnern. Fremd sind nur wir aus dem fernen Wes-ten Europas, aber wir sind fröhliche Fremde im goldenen Licht einer warmen Abendsonne.


Morgen das Paradies, heute diese Stadt
Van, 17. Oktober 2009

Die Schönheit von Van und seiner Umgebung ist sprichwörtlich. "Van in dieser Welt, das Paradies in der nächsten" sagten die früher hier ansässigen Armenier. Die Türken pflichten ihnen bei: "dünyada Van, ahirette Iman" (In der Welt Van, im Jenseits der Glaube).

Die Berge Ararat (5,162 m) und Süphan (4,058 m), im Foto unten aus dem landenden Flugzeug gesehen, stehen groß und majestätisch in der Nähe der Stadt, ähnlich muß der Fujiyama auf Tokio herniederblicken.


Viele Völker haben darum gekämpft, Van zu besitzen. Die lange Reihe von Imperatoren beginnt mit dem Urvolk der Urartier. Die Meder und Perser herrschten nach ihnen und wurden ihrerseits von Alexander dem Großen verdrängt, bevor dann um 900 vor Christus erstmals ein Armenier, König Tigran, das Gebiet unter die Kontrolle seines Volkes brachte. Der Name Van stammt vermutlich aus dieser Zeit, er ist armenisch und bedeutet Dorf oder Siedlung.

Nach den die Armenier unterwerfenden Römern kamen erneut die Perser (Sassaniden), gefolgt von den Byzantinern und für kurze Zeit von den Arabern. Die Armenier kamen zurück, um 900 nach Christus, und gründeten das Königreich des Vaspurakan, wurden aber erneut verdrängt, diesmal von mehreren Wellen zentralasiatischer Völker. Diese stritten lange Zeit unter sich um die Vorherrschaft. Die Mongolen besiegten die Seldschuken, die Timuriden unterwarfen die Qara Qoyunlus („Schwarzhammel“). Als einzige Konstante in diesem Gewirr blieb, nachdem die buddhistischen Mongolen etwa 1400 das Feld räumen mußten, die Vorherrschaft des Islam.

Am Ende hielten die Osmanen, eine weitere zentralasiatische Volksgruppe, das Land für fast 400 Jahre im Besitz. Ihr Name stammt von Osman I., ihrem ersten Stammesführer, der in Westanatolien zwischen 1258 und 1326 lebte, als Oberhaupt eines regionalen Emirates.

Er und seine Familie gewannen nach Westen hin immer mehr an Einfluß, was un-ter Osmans Enkel Murat I. im Jahre 1389 zum berühmten Sieg über die Serben führte, auf dem Amselfeld im heutigen Kosovo. Murat kam in dieser Schlacht zu Tode, aber seine Erben kämpften weiter und eroberten schließlich im Jahre 1453 Konstantinopel. Ihr Anführer dort, Mehmet II., genannt "Der Eroberer", war der siebte Sultan in der Reihe, die mit Osman beginnt.

Der Siegeszug im Westen wurde allerdings von einer Reihe von Problemen im Osten begleitet - Kämpfe mit anderen Sultanaten, mit Mongolen, mit Persern. Die Osmanen benötigten weitere 100 Jahre nach der Eroberung Istanbuls, um auch in Van eine unbestrittene Herrschaft zu errichten.

Die Osmanen verlangten von den beherrschten Völkern nicht, sich zum Islam zu bekehren. Am Ende Ihrer Herrschaft hatte die Stadt Van in etwa gleich viele Schulen für die moslemischen Türken wie für die christlichen Armenier. Beide Ethnien waren möglicherweise nicht sonderlich daran interessiert, zu definieren, was ein echter Türke oder ein echter Armenier war. Die lange Zeit der Völkerwanderung und der wechselseitigen Inbesitznahme hatte die Grenzen ja häufig verwischt.


Das so vielfältig begehrte Paradies wurde zu einer Hölle, als die Demokratie am Horizont erschien und mit ihr der Gedanke, daß wahre Freiheit nur in einem Nationalstaat mit entsprechend klar definiertem nationalem Charakter existieren kann. Später würde man stark simplifizierend sagen, daß ein Staat „eine Sprache mit einer Polizei“ ist. In Van war jedenfalls sehr bald klar, daß es hier eine Sprache zu viel gab, die armenische.

Es folgten "ethnische Säuberungen", um es sehr vorsichtig auszudrücken, mit einem schrecklichen Höhepunkt im Jahre 1915. Fünf Jahre später wurde der Friedensvertrag von Sèvres, der wie der Vertrag von Versailles 1919 das Ende des Ersten Weltkrieges regulieren sollte, mit militärischem Einsatz der Türken korrigiert. Atatürk und seine Soldaten nahmen Van mit Gewalt aus dem Gebilde heraus, das nach diesem Friedensvertrag die Demokratische Republik Armenien werden sollte. Ihr war insgesamt nur ein kurzes Leben beschieden, bevor sie für lange Zeit in die Hände der russischen Kommunisten fiel.


Die kurdischen Halbwüchsigen, die uns dabei helfen, die holprigen Wege zur alten Burg zu erklimmen, sind stolz, Türken zu sein, so sagen Sie es uns. Sie sind zuerst Türken und dann Kurden. Sie erzählen von neuen Problemen, die aus dem Osten entstehen: illegale Arbeiter kommen aus dem Iran und aus Afghanistan und "machen Probleme", indem Sie für niedrigere Löhne arbeiten als die ansässige Bevölkerung. So sagen es die Jungen. Ob es auch illegale Arbeiter aus Armenien gibt? Die Jungen sagen Nein.

Wir werden die Stadt mit der Sonne im Gesicht und einem frischen Bergwind in den Haaren verlassen. Das Paradies ist hier genauso weit entfernt wie an jedem anderen Ort der Erde. Aber an einem schönen Tagen wie diesem kann man viel-leicht auch hier eine kleine Ahnung davon bekommen.


Türkei - Armenien 2: 0
Van, 18. Oktober 2009


Van, Fläche der früheren armenischen Siedlung, zerstört nach 1920

Seitdem ich vor vielen Jahren Franz Werfels "Die vierzig Tage des Musa Dagh" gelesen habe, bin ich davon überzeugt, daß die Anklagen des armenischen Volkes gegen die Türkei voll und ganz berechtigt sind. Ich habe damals die rund 800 Seiten des Romans atemlos und praktisch in einem Zug gelesen, während einer kurzen Krankheit, im Bett liegend. Später habe ich in anderen Büchern geforscht und dann auch im Internet, um mehr über die Geschehnisse von 1915 zu erfahren. Was ich gefunden habe, ist, daß Franz Werfel Recht hat und daß für die damaligen Ereignisse der Begriff Völkermord angemessen ist.

Und trotzdem bin ich nach und nach auch noch zu einer anderen Wahrheit gekommen. Sie besagt, daß die Enkel und Urenkel der Menschen, die 1915 starben, eine andere Art der Versöhnung mit den Nachkommen der Täter anstreben müssen als das, was die Juden und meine von ihrer dunklen Geschichte verfolgten Deutschen nach 1945 erreicht haben. Drei Dinge sind nach meinem Eindruck bei den Armeniern und den Türken anders.

Da ist zum ersten der Zeitfaktor. Die Deutschen konnten unmittelbar nach dem Krieg in einer historischen Stunde nationaler Zerschlagenheit damit beginnen, das zu bereuen, war geschehen war. Die Türkei hatte zwar nach 1918 einen ähnlichen Anfang gemacht und sogar einige der für den Mord verantwortlichen Militärs mit dem Tode bestraft. Die Zeit ging aber über eine tiefere Beschäftigung mit der Geschichte schnell hinweg. Der sich vollkommen neu gründende türkische Staat hatte in der von der Sowjetunion bald verschluckten Teilrepublik Armenien sicherlich kein solches Gegenüber, wie es Deutschland in Israel hatte. Im Ergebnis blieben oberflächliche Lügen aber dahinter eine schmerzhafte Unruhe, die in der ganzen Welt einschließlich der Türkei zu spüren war, zumindest bei denen, die ihr Gewissen nicht vollkommen taub stellten und auf die allseits bekannten Vorwürfe schweigen wollten.

Der zweite Unterschied besteht in einer etwas komplizierteren historischen Wahr-heit. Einige der Armenier befanden sich in einem offenen Krieg mit den Türken, mit dem Ziel, einen unabhängigen armenischem Staat zu gründen, eine Wiedergeburt der armenischem Königreiche, die früher einmal hier geherrscht hatten. Anders als die Deutschen, die keinen einzigen Tropfen Blut aufgrund jüdischer Angriffe vergießen mußten, sind Türken sicherlich in großer Zahl durch armenische Aktionen ums Leben gekommen.

Der dritte Grund hat sich erst in den vergangenen Jahren neu ergeben: die Türkei hat die historische Chance erhalten, den sich neu bildenden postkommunistischen Staat Armenien auf wirkungsvolle Weise in seiner Existenz zu unterstützen. Diese Chance wird die Türkei offenbar nutzen. Armenien ist durch seine Geographie eingeschlossen zwischen einem wenig geliebten postsowjetischen Georgien, einem noch weniger geliebten moslemischen Aserbeidschan - und der Türkei. Für das kleine Land, dem der Zugang zum Meer fehlt, könnte die Türkei ein natürlicher Partner für alle denkbaren Handelsbeziehungen sein. Die Türkei könnte sogar etwas bieten, was immer bestand, bevor der Nationalismus die Überhand gewann: eine zweite Heimat für diejenigen ärmeren Armenier, die in der Fremde nach Arbeit suchen. Man schätzt die Zahl der illegal in der Türkei arbeitenden Armenier mittlerweile auf 70.000.

Vor einem Jahr ordnete ein gütiges Schicksal die beiden Fußballmannschaften von Armenien und der Türkei derselben Qualifikationsgruppe für die Weltmeisterschaft 2010 zu. Beide Länder konnten sich nicht qualifizieren, waren aber nach dem ersten Schreck wohl mehrheitlich glücklich darüber, daß man auf diesem Wege ein informelles Treffen zwischen den Präsidenten Gül und Sarkissjan arrangieren konnte. Die Spiele in Eriwan und Bursa endeten jeweils 2: 0 für die Türkei, die Präsidenten haben sich gut verstanden und mittlerweile mit internationaler Hilfe in Zürich einen Vertrag auf den Weg gebracht, der die verschlossenen Grenzen öffnen und neue Wege der Zusammenarbeit ermöglichen soll.

In Franz Werfels Roman gibt es einen vornehmen alten Türken, den Agha Rifaat Bereket in Antiochien, einen alten Freund von Gabriel Bagradian, dem Held des Romans, und von dessen Familie. Bagradian wendet sich an ihn um Hilfe und der Agha verspricht ihm, "zu den Atheisten in Istanbul" zu reisen und mit ihnen zu Gunsten der Armenier zu sprechen. Er meint damit die Jungtürken, die nicht mehr länger eine Regierung bilden wollen, die sich auf den Glauben gründet, sondern eine solche, deren Grundlage nationalistisches Gedankengut ist. Der Agha weiß: Nationalismus bedeutet Haß und deshalb ist Nationalismus gegen den Koran. Er rezitiert den 13 Vers aus Sure 16

Und was er euch erschuf auf Erden, verschieden an Farbe, siehe ein Zeichen ist wahrlich darin für Leute, die sich warnen lassen.

Verschiedene Farben schließen überstiegenen Nationalismus aus.

Vielleicht kann die Rückkehr von gläubigen Menschen in die Machtzentralen in Ankara die Voraussetzungen dafür vereinfachen, daß zwei Nationen sich wieder miteinander versöhnen, die in ihrer Geschichte über viele Jahrhunderte als Nachbarn gelebt haben, die meiste Zeit davon friedlich.


Konkurrenz mit einem Filmstar
Batman , 18. Oktober 2009

Laut Wikipedia hat die Stadt Batman in der Nähe des Tigris eine lebendige Beziehung zu der Filmfigur gleichen Namens. Ein Lokalpolitiker soll auf die Idee gekommen sein, den Produzenten der Batman-Filme eine Rechnung für die Nutzung des Stadtnamens auszustellen. Ich glaube aber nicht, daß die ganze Sache ein ernstgemeinter Akt war.


Die Stadt hat es derzeit auch gar nicht nötig, sich durch fragwürdige Streitereien um Namensrechte Geld zu verschaffen. Man hat in der Gegend Öl gefunden und kann eine bemerkenswerte wirtschaftliche Entwicklung vorweisen. Nach unseren ersten Eindrücken macht die ganze Region Riesenschritte in Richtung auf eine bessere Zukunft. Es gibt überall gute Straßen, viele bis spät abends hell erleuchtete Läden in den Städten werben für die ganze Palette internationaler Produkte des "Great International Bazaar", wie Francis Fukuyama ihn genannt hat. Es gibt traditionelle kleine Läden mit lokalen Produkten ebenso wie Supermärkte, die von Carrefour, Migros und anderen ausländischen Ketten betrieben werden. Auch einen Burger King sahen wir am Wegesrand.

Eine Vielzahl von Wohngebäuden sieht man im Bau, allesamt mit einem Skelett aus Stahlbeton versehen, das offenbar auch ein stärkeres Erdbeben abfangen kann, wenn Beton und Stahl in der richtigen Menge und Qualität eingesetzt werden. Die Türkei ist, so lange man denken kann, ein Erdbebengebiet gewesen, und man hofft, daß moderne Bauherren moderne Techniken nutzen, um auch gegen eine größere Erschütterung gerüstet zu sein.

Unser Reiseführer sagt, daß die großen Staudammprojekte sehr viel Geld in die Region gebracht haben. Die Oberläufe von Euphrat und Tigris wurden mit mehreren Superdämmen zu Seen aufgestaut, die zu den größten künstlichen Wasserreservoirs der Welt gehören. Ein System von langen Tunnels verteilt das Wasser bis weit ins Land hinein. Der Führer hat kein Ohr für die Beschwerden der syrischen und irakischen Nachbarn am Unterlauf der beiden Flüsse, denen das Wasser auf diese Weise abgegraben wird. Es käme dort nach wie vor so an wie in früheren Zeiten, nur eben etwas später, sagt er.

Das scheint mir nicht ganz zu stimmen. Gegen das neueste Projekt gibt es mittlerweile weltweite Proteste. Wir werden das Tigris-Tal besuchen, in dem dieses Projekt geplant ist. In seinen Fluten versinken würde Hasankeyf, eine der ältesten Städte der Türkei. Gegen diesen Verlust regt sich selbst innerhalb der Türkei Widerstand.


Seelengefährten und Nachbarn
Mardin, 19. Oktober 2009


(Foto: Mor Hananyo, das Safrankloster, Deir ul-Zafaran, bei Mardin)

Kaum zu zählen sind die vielen Götter, die hier in diesem Land angebetet worden sind, in dem Euphrat und Tigris entspringen. Die Götter der Griechen und Römer kamen vor langen Zeiten - sie kamen mehrfach und mußten auch wieder gehen, und zwar immer dann, wenn die Perser die Macht übernahmen. Auch die persischen Götter mußten am Ende ihrerseits Platz machen, und zwar für den Einen Gott der Christen, der dann seinerseits dem Einen Gott der Moslems weichen mußte, als die Zeit dafür reif war. Ihm, dem zuletzt gekommenen gehört das Land nun seit der Zeit, als die letzten buddhistischen Mongolen das Land verließen. Die moslemischen Osmanen installierten um das Jahr 1550 herum permanent, was die Araber und die Seldschuken Jahrhunderte früher nicht auf Dauer erhalten konnten: eine moslemische Herrschaft.

Aber auch diese Vorherrschaft des Islam war nie ganz unangefochten. In Mardin blieb bis auf den heutigen Tag etwas von dem übrig, was in gewisser Weise dem alten persischen Glauben ein Zoroaster oder Zarathustra ähnelt. Es ist der Glaube der Jesiden.

Wikipedia hat einen Artikel über die Jesiden, die in dieser Stadt leben oder gelebt haben, nachdem in letzter Zeit sehr viele von ihnen ausgewandert sind. Ihr Ursprung ist unklar, sie haben offensichtlich viele Elemente der Religionen in ihrer Nachbarschaft übernommen, und taufen oder beschneiden deshalb ihre Kinder, ohne besondere Unterschiede zu machen. Sie glauben an Seelenwanderung, an den Übergang von der Seele einer Person auf eine andere oder von einem Lebewesen auf ein anderes.

Mir gefällt eine ihre Ideen gut: jede Person hat einen Seelengefährten, einen „Jenseits-Bruder“ (biraye achrete) oder eine entsprechende Schwester, mit dem oder mit der man die Ewigkeit verbringen wird. Dein Bruder geleitet dich durch die Pforten des Himmels und kann dabei sogar einige deiner moralischen Schulden übernehmen, die im ewigen Gericht aufgedeckt werden. Er bereitet auf diese Art und Weise das Paradies sozusagen für dich vor. Der Gedanke an einen solchen Seelenverwandten erstaunt mich. In meiner Gesellschaft, in der sich fast niemand mehr um ein Leben im Himmel kümmert, ist die Vorstellung von einem Freund dort oben vollkommen fremd. Ich wünschte mir, ich hätte einen ...

In welchen einzelnen Schritten der Islam nach Ostanatolien und wie gelang es ihm, dort Wurzeln zu schlagen? Die Araber eroberten die gesamte Region zwischen Ägypten und Syrien in kaum mehr als 20 Jahren nach dem Tod ihres Propheten Mohammed, der im Jahre 632 starb. Diese Eroberung umschloß auch Ostanatolien. Damals hatten die beiden dortigen Großmächte, die Perser und die Byzantiner, ihre Kräfte in jahrelangen Kriegszügen gegeneinander aufgerieben. Dies mag einer der Gründe für den schnellen Erfolg der Araber gewesen sein. Trotzdem bleiben die enormen militärischen Leistungen der Araber, die wenig später noch weiter zogen, um Persien und Teile von Indien und Zentralasien zu erobern, bis heute weitestgehend ein Rätsel.

Die Araber konnten die Region zwischen Mardin und Van allerdings nicht lange halten. Andere Kräfte kamen zurück, zuerst die christlichen Armenier. Sie errichteten eine Königreich, das über viele Jahre Bestand hatte. Als um das Jahr 1100 herum die Seldschuken aus Zentralasien Kontrolle über das Gebiet übernahmen und die Armenier verdrängten, waren sie die zweite moslemische Nation, die hier regierte. Ohne genau zu wissen, auf welchen verschiedenen Wegen es den Arabern gelungen war, den Islam in Zentralasien ansässig zu machen, kann man allgemein sagen, daß die Rückkehr dieses Glaubens im Gepäck der Seldschuken sozusagen der Re-Import einer Religion war, die dort früher bereits einmal vorherrschend war.

Sie wurde in späteren Jahren wie bereits erwähnt von den buddhistischen Mongolen erneut verdrängt, welche das Land um das Jahr 1240 herum eroberten. Etwa 100 Jahre später waren es dann andere türkische Völker, die ihrerseits das Land eroberten und den Islam zum dritten Mal zur Religion erhoben. Auch sie wurden noch einmal geschlagen, und zwar von den Persern im Jahre 1502. Erst den Osmanen gelang es, eine moslemische Vorherrschaft zu begründen, die auf Dauer anhielt, bis heute.

Seit der Zeit der Osmanen war der Islam die erste Religion hier, aber nicht nur die Jesiden sondern eine Vielfalt von persischen und christlichen Glaubensrichtungen wurden weiterhin geduldet. Die Vielfalt der Religionen ging einher mit einer Vielfalt von unterschiedlichen Völkern, nachdem sich die alte byzantinische und armenische Bevölkerung mit Menschen von Mesopotamien, Persien, Arabien und natürlich Zentralasien vermischt hatte.

Sie alle wurden dann allerdings mit einem Mal als ein einheitliches Volk angesprochen, als im Jahre 1925 Atatürk kam und „dem Türken“ die berühmte Aufforderung zurief, stolz zu sein, arbeiten zu gehen zu vertrauen. Ohne rechtfertigen zu wollen, was er damals gleichzeitig auch an Härten verursachte, kann man doch sagen, daß in der Bemühung, dieses Volk zu einigen und den Begriff „Türke“ zu standardisieren, das große Werk eines Mannes besteht, der die Vision hatte, daß man dieses Patchwork von unterschiedlichen Ethnien und religiösen Bekenntnissen unter einer einzigen Flagge versammeln könnte. Es wurde eine rote, mit einem Mond und einem Stern darauf.


Vom Kloster St. Ananias / Mor Hananyo aus hat man einen weiten Blick hinunter in die mesopotamische Ebene, die sich wie ein friedlicher Ozean unterhalb der Bergkette von Mardin bis zum Horizont erstreckt. Nicht weit von hier beginnt Syrien. Das Kloster heißt wegen seiner gelben Farbe auch "Safrankloster" und beherbergt eine Syrisch-Orthodoxe Kirche, die seit den frühesten Zeiten der Christenheit hier steht und viele Jahre der Bischofssitz des Patriarchen aller Syisch-Orthodoxen Christen war.

Ein Mitglied der Kirche berichtet uns darüber, daß die Lage des Klosters in den Zeiten der türkischen Republik niemals besser war als heute, wo in Ankara eine Partei herrscht, die vielerorts den Argwohn erregt, sie sei islamistisch.

Die Leiter einer Gülen-Schulen in Mardin, die wir am Abend treffen, vermitteln uns ein ähnliches Bild: in Mardin entwickelt sich ein immer stärker werdender Friede zwischen den ethnischen und religiösen Gruppen. Das betrifft auch die Kurden, die lange in dieser Gegend für Unruhe sorgten. Die Lehrer freuen sich über die Ruhe, weil sich in dieser friedlichen Atmosphäre die notwendigen Schritte zur Verbesserung der Kindererziehung sehr viel leichter durchführen lassen als in der Unruhe, die noch vor wenigen Jahren hier herrschte.

Die Gülen-Leute sind freundliche Menschen, sie stehen mit beiden Beinen auf der Erde, sind sehr umgänglich in ihren äußeren Formen und dabei doch von einer starken Vision für eine Verbesserung der Lebensumstände der ihnen anvertrauten Kinder erfüllt. Ich könnte mir ohne weiteres vorstellen, daß sie amerikanische Christen wären, die für vergleichbare christliche Projekte arbeiten, und ich wäre sicherlich stolz, die Botschafter meines eigenen Glaubens so glaubwürdig und vertrauenerweckend auftreten zu sehen, wie diese Männer es tun.


Ein umherirrender Aramäer war mein Vater
Midyat, 20. Oktober 2009


Die Syrisch-Orthodoxe Kirche bewahrt einen uralten aramäischen Dialekt als ihre offizielle Kirchensprache durch die Jahrtausende auf. Die Kirche bezeichnet sich nach dieser Sprache auch als „aramäische Kirche“. So erzählt es uns ein junger Deutscher, ein Mitglied der Kirche, der Vorfahren hat, die hier aus Midyat stammen, und der für zwei Monate als Praktikant in St. Gabriel / Mor Gabriel (Foto oben) arbeitet.

Die Syrisch-Orthodoxen Christen sind über die ganze Welt verteilt, aber viele von ihnen leben immer noch hier in der Region um Midyat und Mardin. Das Oberhaupt ihrer Kirche ist der Patriarch von Antiochien, er hat viele Jahre im benachbarten Kloster St. Ananias / Mor Hananyo in Mardin residiert. Nach politischen Problemen mit der Türkei ist der Patriarch im Jahre 1933 nach Syrien umgezogen und residiert heute in Damaskus.

Die alte Sprache der Aramäer ist die Sprache von Jesus. Zu seiner Zeit war sie lingua franca für große Teile der Länder zwischen Ägypten und Persien. Sie gehört zur Familie der westsemitischen Sprachen und ist also mit dem Hebräischen und Arabischen verwandt. In Mel Gibsons Film „Passion Christi“ sprechen alle bis auf die Römer diese Sprache, eine weiche, melodische und weniger gutturale Schwester der anderen semitischen Sprachen.

Für die Juden verbindet sich mit dem Wort „Aramäer“ eine Erinnerung, die bis weit in die Frühgeschichte des eigenen Volkes zurückreicht. Im fünften Mosebuch, Deuteronomium 26,5 wird ein altes Glaubensbekenntnis der Juden formuliert:

Du sollst vor deinem Gott JHWH anheben und sprechen: ein umherirrender Ara-mäer war mein Vater, und er zog nach Ägypten hinab und hielt sich dort als Frem-der auf, als ein geringes Häuflein. Doch er wurde dort zu einer großen, starken und zahlreichen Nation.

Der „umherirrende Aramäer“ ist ein ewiges Bild für den Menschen, dessen Leben noch nicht von Gott berührt wurde. Seine nationale Zuordnung ist undeutlich. Er zieht umher, geht in der Wüste verloren, das ist, was der ursprüngliche Ausdruck „obed“ bedeutet. Erst als er noch tiefer in eine verzweifelte Lage, in ägyptische Sklaverei gerät, ruft er JHWH um Hilfe an und der erhört ihn.

Die Vorfahren unseres Führers durch das Kloster, der ebenso wie das Kloster „Gabriel“ heißt, haben hier jahrhundertelang nicht mehr „umherirrend“ sondern mit einer klaren ethnischen und religiösen Identität gelebt. Sie und die Türken waren gute Nachbarn, der Ruf des Muezzins und das Läuten der Glocken klangen friedlich miteinander. Die säkulare Regierung, die von Atatürk begründet wurde, schuf dann aber eine Reihe von neuen Problemen. Die Aramäer fühlen sich heute unter der stärker auf den Islam konzentrierten Regierung Erdogan wohler.

Das Foto unten zeigt ein Minarett und einen Kirchturm in Midyat.


Ein alter Aramäer aus Bern in der Schweiz, der mit uns seine frühere Kirche besucht, sagt mir das Vaterunser in Aramäisch. So hat es Jesus seinen Jüngern gelehrt.
Später fand ich eine Transkription im Internet:

abuhn dabaschmaja
nethkadasch schamach
thetha malkotach

In Hebräisch würde es etwa so klingen:

awinu b'schamajim
jitkadasch schemcha
tabo malkotecha.


(aw / Vater, schamajim / Himmel, kadosch / heilig, schem / Name, bo /kommen, melech / König)


Kinder
Mardin, 20. Oktober 2009


Als vor einigen Jahren eine Gruppe türkischer Lehrer eine Schule in meiner Heimatstadt besuchte, brachte ein Freund, der in dieser Schule arbeitete, die Lehrer mit zu mir nach Hause. Nach einem höflichen Gedankenaustausch über mein von den Gästen offenbar über alle Maßen verehrtes deutsches Heimatland fragte ich die Lehrer, ob es nicht wenigstens einen Punkt gäbe, den die türkischen Gäste in diesem Land befremdlich oder eigenartig fänden.

Die Frage wurde zunächst freundlich verneint. Als ich dann aber nachbohrte, sagte schließlich doch einer der Lehrer mit einem fast verlegenen Lächeln: „In der Türkei ist es auf den Straßen laut und in den Schulen leise, in Deutschland ist es umgekehrt.“

Ich erwartete entsprechend eine „stille Schule“, als wir unsere erste Gülen-Einrichtung in Mardin besuchten, und war überrascht, dort einen Haufen sehr leb-hafter Kinder zu finden, im Alter zwischen 6 und 16 Jahren. Unsere Besuchsgruppe wurde wie hohe Prominenz behandelt, vergleichsweise wie Bayern München beim Besuch einer oberbayrischen Schule. Wo immer wir stehen blieben, waren wir bald von Trauben von Kindern umringt, die alles Mögliche von uns wissen wollten. Dabei erwiesen sich die Kinder zwar als respektvoll aber in keiner Weise als schüchtern oder unter einem erzieherischen Druck stehend.


Die Lehrer waren, ganz wie ich es erwartet hatte, überwiegend schlanke, sorgfältig gekleidete junge Männer, die mit ihrem äußeren Erscheinungsbild ganz offensichtlich ein Beispiel für die Kinder geben wollten. Die Kinder selbst trugen Schuluniformen, blau die älteren, orange und grau die jüngeren, was sie ein wenig wie eine fröhliche holländische Nationalmannschaft aussehen ließ.

Gülen war in dem modernen, vor kurzem erst eingeweihten Gebäude nirgendwo präsent. Der alles überragende Mann war hier wie überall Kemal Atatürk, mit einer Statue auf dem Schulhof und Bildern in den Innenräumen. Mir gefiel die offene Atmosphäre in diesem Haus und ich winkte den Kindern ein fröhliches Auf Wiedersehen zu, als unser Mannschaftsbus langsam vom Schulhof rollte. Sie hatten mir eine glückliche Stunde geschenkt und es mir ermöglicht, mich als ein Star zu fühlen, wenigstens einmal im Leben.




Die Stadt Abrahams
Urfa, 21. Oktober 2009


Was auf dem Photo aussieht wie eine festlich geschmückte deutsche Einkaufsstraße zur Weihnachtszeit, ist Urfas (genau: Șanlıurfas, davon später mehr) Willkommensgruß zum Eintritt in die „Stadt der Propheten“. Peygamber ist das türkische Wort für Prophet, die Araber sagen Nabi, ebenso wie die Juden. Șanlıurfa nimmt für sich in Anspruch, die Heimat zweier Propheten zu sein, Abraham / Ibrahim und Hiob / Eyyup.

Die Bibel erzählt davon, daß Abraham aus der Stadt Ur stammte und daß diese in Chaldäa gelegen war. Die örtliche Tradition sieht Ur im nördlichen Mesopotamien, in der Stadt, welche die Griechen früher Edessa nannten, die Araber Ar-Ruha, die Türken Urfa. Das ist das heutige Șanlıurfa.

Erst relativ spät haben Archäologen eine zweite Theorie entwickelt und Ur in das weit im Süden des Irak gelegene Tell el-Mukayya verlegt, eine alte Stadt, die erst vor weniger als 100 Jahren ausgegraben wurde. Ich bin mit der neuen südlichen Theorie aufgewachsen, so wie sie in der untenstehenden Karte wiedergegeben ist, die ich aus einem Bibelatlas übernommen habe. Hier ist Abrahams recht lange Reise nach Kanaan mit roten Pfeilen dargestellt.

Mittlerweile tendiere ich mehr zur alten, nördlichen Theorie. Ein Grund dafür ist die relative Nähe Urfas zu der zweiten Stadt, in der Abraham und seine Familie siedelte, Haran. Eigentlich müßte man Charran sagen, mit einem ch wie in doch, weil das Wort Haran mit einem einfachen h den Namen des Bruders Abrahams bezeichnet. Charran heißt heute noch so, eine Stadt im nördlichen Mesopotamien, nicht weit von hier entfernt und wenige Kilometer nördlich der türkisch-syrischen Grenze. Das ist Abrahams Charran, ohne Zweifel.

Charran läge also nicht weit von Ur entfernt, wenn es Urfa wäre. Abrahams Reise wäre dann erheblich kürzer gewesen als auf der obigen Karte eingetragen (in der Charran der nördliche Wendepunkt ist). Das erscheint mir sinnvoll, weil die Nachkommen Abrahams dann jeweils ganz allgemein in das Gebiet der Väter zurückkehrten, wenn sie heiraten wollten und Frauen ihres Volkes suchten.

Der zweite Grund ist natürlich, daß wir jetzt in Urfa sind und gerne in den Spuren Abrahams gehen würden.

Und auch in denen Hiobs, da auch er möglicherweise aus Urfa stammt. Ihn hierhin zu plazieren ist eine alte muslimische Vorstellung. Hiob / Eyyup spielt eine wichtige Rolle im Koran.

Die Bibel sagt, daß er aus erez (g)uz war, dem Lande Uz, das g manchmal ausgesprochen (wie in Gaza) und manchmal nicht. Einer der Katastrophen, die Hiob trifft, ist ein Angriff der Chaldäer welche seine Kamele rauben und seine Knechte töten. Vielleicht lebte Hiob in ihrer Nähe oder unter ihnen (Chaldäer war ein allgemeiner Name für die Menschen in Mesopotamien), das spricht dafür, daß er ebenfalls ein Bürger von Urfa gewesen sein könnte.

Urfa wurde 1984 in Şanlıurfa umgetauft, (SCHANN-le-ur-fah) „das glorreiche Urfa“, im Andenken an seinen starken Widerstand im türkischen Unabhängigkeitskrieg zwischen 1919 und 1923. Es ist eine lebendige Stadt mit einer halben Million Einwohnern.

Das Zentrum des alten Harran / Charran ist dagegen eine traurige Einöde, die aus einer großen archäologischen Stätte und ärmlichen Häusern ringsumher besteht. Ich habe hier ein ungutes Gefühl, das mich in alten Ruinen häufig überfällt und mich bezweifeln läßt, daß die Archäologen je eine wirkliche Informationen aus dem erhalten, was sie dem Schutt der Jahrhunderte entnehmen.

Hier in Harran stehen als einziges sichtbares Ergebnis der vielen Grabearbeit eine kleine Fassade, von der angenommen wird, daß sie zu einer Moschee gehörte, und der Rest eines Turmes, vielleicht ein Minarett. Man nimmt an, daß die Araber dies um das Jahr 700 erbaut haben und daß die Mongolen rund 300 Jahre später kamen und alles wieder zerstörten. Die Bauern der Gegend errichteten später ihre Häuser mit den alten Steinen und hinterließen im Laufe der Jahrhunderte einen traurigen Trümmerhaufen.


Die Region rund um Harran erhält seit einigen Jahren Wasser aus dem riesigen türkischen Staudammprojekt. Entstanden ist ein grüner Garten mit Getreide, Mais und Baumwolle. In unserem Bus fühlen wir uns angesichts der unendlich vielen weißen Wattebäusche wie Down in Louisiana und beginnen, that good ol' Cottonfield Song zu singen.


Die Leiden des Hiob / Eyyup
Urfa, 21. Oktober 2009


Juden und Christen leben mit der ziemlich deprimierenden Erkenntnis, daß Hiobs Leiden tausend Fragen an uns stellen und uns mit so gut wie keiner Antwort zurücklassen. Es scheint fast, als ob Gott selbst die Wege zu allen Antworten versperrt hat.
Er fragt Hiob

Kannst du die Bande des Siebengestirns zusammenbinden oder den Gürtel des Orion auflösen?
(Hiob 38:31)

und wir fügen stumm hinzu: wenn du es nicht kannst – dann halte den Mund! Tief in unserer jüdisch-christlichen Seele tragen wir dabei die unausgesprochene Hoffnung mit uns herum, daß nicht die fertigen Antworten uns in Bewegung halten, sondern die ungelösten Fragen. Und unter den vielen Fragen des Lebens gehören vielleicht die des Hiob zu den prominentesten, die Juden und Christen in produktiver Unruhe halten.


Anders die Moslems. Sie sind im Besitz der einfachen Geschichte eines gehorsamen, wenn auch kränklichen Hiob / Eyyup, der für einige Zeit in einer Höhle lebt und dessen Krankheit durch das Wasser, welches aus einer nahegelegenen Quelle plötzlich wie aus dem Nichts auftaucht, geheilt wird. Höhle und Quelle können in Şanlıurfa besucht werden und eine große Moschee neben dem Wallfahrtsort lädt zu einem Dankgebet im Kreise der örtlichen Bevölkerung ein, die hier, Männer und Frauen gleichermaßen, Kopftücher in einer wunderbar sanften lila Farbe trägt.


Der Koran enthält die komplette Bibel in sich, so sagen es die Lehrer des Islam. Aber wenn ich lese, wie viele Abkürzungen der Koran macht, um eine komplizierte biblische Geschichte einfach zu machen, bezweifle ich es manchmal. Ich frage mich oft: was würde passieren, wenn die treuen Anhänger der Hohen Koran, Friede sei mit ihm, beginnen würden, die Bibel wirklich zu studieren, Friede sei auch mit ihr?

In Mardin fragte ich einen der Lehrer, zu dessen Ausbildung auch die islamische Theologie gehört hatte, ob er im Laufe seiner Vorlesungen auch die Bibel studiert habe. Ja, er hatte Teile davon gelesen. Könnte er sich an Worte aus der Bibel erinnern, die er besonders gerne gelesen und deshalb im Kopf behalten habe? Ja, sagte er, die Teile (im Johannes-Evangelium), wo ein Tröster versprochen wird, ein Paraklet, der nach moslemischer Auslegung der Bibel auf Mohammed gedeutet wird.

Mir hat die Antwort natürlich nicht besonders gut gefallen. Ich hatte zuvor ein Angebot gemacht, indem ich ihm sagte, daß ich gern die Sure 103 läse mit der Ermahnung, sich gegenseitig zu Wahrheit und Geduld anzuspornen. Seine Antwort erinnerte mich an die Art und Weise, in der die Menschen aus meiner Heimatstadt die Leute aus der Nachbarstadt necken: das beste, sagen sie, was es dort gibt, ist der Blick auf uns ...

Ich will die Hoffnung nicht aufgeben, daß ich eines Tages einen Moslem treffe, der weite Teile der Bibel gelesen und festgestellt hat, daß dort eine tiefe Wahrheit über die menschliche Existenz zu finden ist. Er kann danach zu seinem Koran zurückkehren. Aber er sollte wissen, daß die Weisheit des Korans bisweilen in einer Abkürzung besteht.


Grüne Demokratie
Urfa, 23. Oktober 2009

Heute hat mich wieder der erste Muezzinruf aus dem Schlaf geweckt. Er kommt vor Sonnenaufgang. In einer Großstadt wie Șanlıurfa ist es kein einzelner Ruf sondern eine ganzer Chor, der an einem Herbsttag wie heute um etwa 5.30 Uhr zu singen beginnt. Der Muezzin in der Moschee nebenan weckt dich auf, und plötzlich hörst du Dutzende von ihnen, nah und fern.

Gestern waren wir Gäste von Mehmet, einem wohlhabenden Mann, Immobilienmakler und Leiter des örtlichen Arbeitgeberverbandes. Wir fragten ihn und seinen Freund Hamit, einen Bauingenieur, über eine Menge von Dingen aus und kamen schließlich zu der Frage, ob ein gläubiger Anhänger des Islam auch ein guter Demokrat sein kann.

Das Bild unten zeigt Menschen beim Gebet in der großen Moschee in der Nähe des Ortes, der hier in Șanlıurfa als Hiobs Höhle verehrt wird.


Mich beschäftigt seit längerem die Frage: kann er, der Moslem, aber in ähnlicher Weise auch der fromme Christ, voll und ganz eine offene moderne Gesellschaft unterstützen, trotz aller ihrer Mängel was die Aufrechterhaltung der moralischen Werte seiner Religion betrifft? Kann er tolerant mit ansehen, wie die Freiheit der Presse sich gegen die Heiligkeit seines Gottes wendet, wie die Minderheitenrechte der Homosexuellen gegen die Heiligkeit der Ehe aufgewogen werden, die Entscheidungsrechte einer schwangeren Frau gegen das ewige Versprechen, daß jedes Leben von Gott allein gegeben wird?

Ja! sagen Katholiken in Spanien, Methodisten in den Vereinigten Staaten, und Pfingstchristen in Brasilien. Nein! sagt eine wachsende Zahl von organisierten Atheisten und Agnostikern, die Busse mit „Es gibt wahrscheinlich keinen Gott“ rund um die Welt fahren lassen und glauben, daß der Friede auf der Erde erst dann kommen wird, wenn aller religiösen Eifer endgültig abgeschafft ist.

Ja! ist auch mein Votum, und ich wäre gerne auf dem Weg, um dieses Ja an das Ja derer zu binden, die es ihrerseits in der islamischen Welt zum Ausdruck bringen wollen. Unser Ja muß jetzt verteidigt werden, gemeinsam verteidigt. Es muß zuerst innerhalb unserer eigenen Glaubensgemeinschaften gegen jene verteidigt werden, die uns lehren wollen, daß nur eine strikte, fromme und rechtmäßig gesinnte Gesellschaft die Gnade Gottes gewinnen und ihr eigenes Überleben sichern kann. Das würde dann ja bedeuten, daß alle diejenigen religiösen Prinzipien, denen der ungläubige Teil der Bevölkerung nicht folgen will, zwangsweise eingeführt werden müßten.

Es ist zweitens gegen diejenigen zu verteidigen, welche nur solchen Menschen demokratische Fähigkeiten zutrauen, die zum inneren Kreis der eigenen Denkrichtung gehören. Diese Vorurteile bringen Protestanten gegen Katholiken auf, Liberalen gegen Orthodoxe, Christen gegen Moslems. Erst als drittes muß unser Ja gegen die verteidigt werden, die überhaupt nichts glauben.

Meine Erwartung an die modernen Türken ganz allgemein ist, daß man unter ihnen zunehmend Menschen trifft, die Ja sagen zu einer besonderen Art der Selbstregierung: zu Grüner Demokratie. Diese moslemische Form derjenigen Staatsform, von der die Gründerväter der amerikanischen Verfassung durchdrungen waren (und die vielleicht weltweit bekanntesten Worte für die Freiheit der Menschen gefunden haben), müßte sich ganz bewußt auf den Islam stützen. Von dort könnten dann neue Formen der Regierung „des Volkes, durch das Volk für das Volk“ kommen, wie es Abraham Lincoln ausgedrückt hat, vielleicht sogar solche, die uns heute noch vollkommen unbekannt sind.

Jedes Volk, jeder Glaube hat seine eigene Art, Menschen zu versammeln und sie über wichtige Fragen der eigenen Gemeinschaft entscheiden zu lassen. Die schwedische Form der sozialen Demokratie hat möglicherweise eine tiefe Wurzel, die auf alte Thing-Riten rotbärtiger Skandinavier zurückgeht. Warum sollte ein moslemisch geprägter Paschtunen-Clan in Afghanistan nicht ähnliche Stammes-Regeln in die demokratischen Verfahren einbringen?

Die Menschen, mit denen ich gestern sprach, kennen viele islamische Regeln, die sicherstellen, daß Menschen nicht ohne ihre Zustimmung regiert werden. Offenbar sind sie sicher, daß der strikte Gehorsam gegenüber dem islamischen Recht niemanden vom Leben in einer Demokratie westlichen Stils ausschließt. Sie stimmen darin überein, daß sie alle friedlich unter Menschen mit unterschiedlichen ethnischen und religiösen Hintergründen leben wollen. Sie würden akzeptieren, was die meisten Menschen in den großen Hauptstädten der Welt bereits seit vielen Jahren akzeptieren: daß ihre Nachbarn nebenan kein Mitglied ihrer eigenen Gruppe sind.

Ich diskutierte mit ihnen letzte Nacht, was die New York Times über die jüngsten Entwicklungen im Libanon berichtet hatte. Sie waren ein wenig zögerlich, dem zuzustimmen, was ein prominenter Journalist in Beirut über die Entwicklung im Irak sagte: "Bush hatte die einfache Idee, daß die Araber demokratisch sein könnten" und daß er damit eine Tür für diese Idee in der gesamten Region öffnete. Ich will weiter daran festhalten, daß Bush den Kern einer guten Idee hatte, und daß viele Menschen dieser Idee folgen sollten.

Moschee nahe der Höhle des Hiob/ Eyyup.


Goldgräber
Urfa, 23. Oktober 2009


Türkische Schulen sind Konkurrenten in einer nationalen Champions-League von ehrgeizigen Bildungseinrichtungen, die jährlich eine maximale Anzahl von Studenten durch ein hartes nationales Testsystem zu bringen versuchen, ähnlich dem Verfahren in Frankreich. Nach jeder Testrunde wird eine Statistik der Studenten veröffentlicht, welche sich für die besten Plätze in den Hochschulen der Türkei qualifiziert haben. An der Spitze liegt schon lange nicht mehr das feine Robert College in Istanbul, das früher lange als Nummer eins mit der höchsten Zahl der Qualifikanten rangierte, wie eine Art türkisches Eton. Mittlerweile haben andere Schulen außerhalb von Istanbul die ersten Reihen eingenommen.

Einige der Newcomer sind stolz, daß ihre Schüler aus den ärmeren Regionen ihrer jeweiligen Heimatorte kommen, aus den Gecekondus, den Slum-Städten, die erbaut wurden (kondu) in einer schnellen illegalen Aktion über Nacht (gece), geschützt durch ein Gesetz, welches Besetzern erlaubt, an dem Ort wohnen zu bleiben, wo sie erfolgreich ein Stück Land für mehr als 24 Stunden in Besitz gehalten haben.

Die Gülen-Bewegung weiß offenbar um das menschliche Gold, das in diesen Gecekondus gefunden werden kann. Die Lehrer ihrer Schulen besuchen jedes Kind regelmäßig zu Hause und helfen ärmeren Familien, ihre Kindern auch dann im Unterricht zu halten, wenn das kleine Geschäft des Vaters die ständige Präsenz des Kindes erfordert. Manchmal kaufen sie es einfach bei seinem Vater frei, wenn es als begabt genug gilt.


Bildung ist ein Gut, um welches Nachhilfe-Organisationen untereinander im Wettbewerb stehen. In Șanlıurfa sah ich eine große Giebelwerbung, die voller Stolz die besten vier Kinder präsentierte, die durch das besondere Tutorenprogramm einer solchen Organisation zu einer Universität gebracht wurden. Die Gülen-Programm, das wir besichtigten (Foto oben, Okuma salonu bedeutet "Lesesalon"), präsentierte in einem Schrank ebenfalls Messingtrophäen mit den Namen der Schüler, die besonders weit gekommen waren.

Vielleicht werden bald neuere Statistiken zeigen, daß ein Gecekondu kein schlechter Ort ist, um von dort aus eine akademische Laufbahn zu starten. Die Slum-Städte sind offensichtlich kein Platz für Drogen und Kriminalität, sondern Stationen der Hoffnung, die eine hart arbeitende Familie von Landflüchtlingen recht bald mit einer der Toki-Wohnungen tauscht, die der türkische Staat für diejenigen subventioniert, die ihre illegal erworbenen Squatter-Rechte verkaufen und im Tausch dafür eine neue Immobilie erhalten.

Sobald man gelernt hat, was ein Gecekondu ist, sieht man sofort, wie sie überall am Rand der größeren Städte stehen. Man sieht aber auch, wie ganze Gebiete nach und nach abgerissen und durch große Wohnbauten ersetzt werden, oft vier oder sechs in einer Gruppe, acht Stockwerke und mehr hoch. Das weiße Gold, das in den Gecekondus lebt, humanes Genkapital, wird nach und nach in bessere Wohnstätten transferiert.

Und es verändert das Antlitz der Städte. Uns wurde gesagt, daß das Öl und die gro-ßen Staudamm-Projekte rasch die Wirtschaft Ostanatoliens verbessert haben. Aber es wäre vermutlich ein toter Reichtum wie in vielen arabischen Ölstaaten, wenn es nicht mit der Brainpower all der vielen jungen Menschen kombiniert würde, die hier das Straßenbild bestimmen.

Die Türkei gräbt nach menschlichem Gold. Sie ruft Hirten aus den Dörfern in die Städte und schickt ihre Kinder auf die Universitäten, sie heißt arme Bauern will-kommen und erhält bald gute Industriearbeiter im Austausch. Wenn die Deutschen nur wüßten, daß die gleichen Rohstoffe auch an ihre Küsten gespült wurden!


Im Haus eines reichen Mannes
Urfa, 23. Oktober 2009


Mehmet und seine Frau Mehtap besitzen eine 200-qm-Wohnung im vierten Stock eines neuen Mehrfamilienhauses in Șanlıurfa. Ein durchschnittliches deutsches Ehepaar würde vermutlich eifersüchtig auf die Ausstattung der Küche schauen, auf die reichen Teppiche im Wohnzimmer und den riesigen Flachbildschirm im gesonderten Fernsehraum (und einen weiteren, nur wenig kleineren Bildschirm in der Küche). Die beiden Eheleute und ihre drei Kinder genießen es offenbar, ihren Reichtum vorzuzeigen, und sie können das auch ohne den Ärger darüber tun, den ich noch aus der Türkei von 1971 in Erinnerung habe, daß man draußen vor der Haustür eines im Inneren schönen Hauses schlechte Straßen, ungepflegte Gärten und eine allgemeine Unordnung vorfindet.

Hier war es anders. Wir sahen gute und solide gebaute Straßen bis weit in den Osten von Anatolien, überall mit Leitplanken gegen Unfälle versehen. Autobahnähnliche Straßen verbinden die Städte im Südosten, teils mit Maut-Stationen, an denen man eine günstige Gebühr für das Reisen zu entrichten hat. Wir fanden einen lebendigen, aber dennoch vergleichsweise gut geregelten Straßenverkehr innerhalb der städtischen Gebiete. Ampeln gab es überall, und man hielt sich, wiederum anders als ich es in früheren Jahren erlebt hatte, in aller Regel auch daran. Über allem sah man, dies sicher der stärkste Eindruck, eine enorme Menge an neuen im Bau befindlichen Wohnprojekten. Dies ist ein Land, das sich in einem riesigen Sprung nach vorn befindet.

Das Interesse unseres Reiseleiters an historischen Stätten und alten Gebäuden führte uns die meiste Zeit in die Innenstädte mit ihren Basaren und kleinen Ladengeschäften. Sie sahen alle noch so aus wie die alte Türkei, die ich in Erinnerung hatte. Aber bei der Fahrt in die Städte kamen wir an großen Supermärkten vorbei, Carrefour-Filialen mit Burger Kings darin, ich erzählte es schon. Darüber die Leuchtreklamen aller großen globalen Unternehmen, die ihre Ware an den Grand International Bazaar liefern.

Ömer erzählte uns von seiner Hinwendung zur Gülen-Bewegung vor 9 Jahren. Er war auf der Suche nach etwas Tieferem, etwas, das ihm sein Reichtum offenbar nicht geben konnte. Heute ist er froh, Mitglied einer lebendigen Gemeinschaft zu sein, viele von ihnen, wie ich denke, so erfolgreich wie Ömer und so einladend, was neue Verbindungen über den Tellerrand des bisherigen Lebens betrifft, wie er und seine Frau.

Die beiden hatten es unternommen, einer Menge von 14 Gästen und 5 Familienmitgliedern ein reichhaltiges Abendessen zu servieren. Mehmet und seine kleinen Söhne machten es, von der Mutter gesteuert, die erst zuletzt aus der Küche kam, ganz perfekt. Es gab nichts, was an die alte Pascha-Mentalität erinnerte, die man alten Türken oft nachsagt. Hier war ein moderner Mensch bei der Arbeit, und ein frommer dazu.


Eine Freude für Ramazan Başak (MP)
Urfa, 23. Oktober 2009

Im Teegarten neben der großen Halil-Rahman-Moschee wird es nach der Stille des Freitagsgebetes, während dessen nur wir Ungläubigen und ein paar andere Besucher den Park um die Moschee bevölkern, lebhaft. Ein Kamerateam des türkischen Senders TRT interviewt den örtlichen Abgeordneten der AKP im Parlament von Ankara, den noch recht jungen, gutaussehenden Ramazan Başak (Foto). Man hat den schönen Teegarten mit einem großen Springbrunnen im Hintergrund als Drehort gewählt und bekäme, wenn die Kamera ein wenig schwenken würde (was sie aber nicht tut) unsere Gruppe als Statisten der Szenerie mit in den Blick. Wir sitzen nämlich am Nebentisch von Herrn Başak (gesprochen BA-schak) und sehen ihm aus nächster Nähe zu.


Der erzählt der zauberhaft schönen Frau Yağmur Bayrak, seiner Interviewpartnerin, ausführlich von seinem Leben in Urfa und seinem beruflichen Werdegang dort. Sie lächelt interessiert und hält dieses Lächeln über sicherlich 15 bis 20 Minuten durch, mit heroischer Kraft, am Ende aber nach meinem Eindruck doch ein wenig in der Gefahr einzusäuern.


Auch Ramazan Başak lächelt, aber sein Lächeln ist von ganz anderer Art. Wie Frau Bayrak hält er es über die ganze Zeit durch, aber bei ihm kommt es nicht aus einer beruflichen Routine sondern aus innerer Überzeugung. Es ist etwas ganz Wunderbares, so scheint es jeder Muskel seines Gesichtes, ja seines Körpers zu sagen, daß ich hier stehe und der Welt etwas mitzuteilen habe. Ich freue mich ganz außerordentlich darüber, und ich spüre, wie sehr alle meine Zuschauer sich ebenso freuen wie ich. Sie haben mich gewählt, haben mich auf den Schild gehoben, mich nach Ankara geschickt, und mit ihrem Wohlwollen im Rücken (das ich im übrigen herzlich entgegne) fahre ich meines Weges dahin!

Ich habe diesen Blick von Herrn Başak oft im Leben gesehen, man findet ja vor jedem Parlament der Welt Menschen, die beständig voll innerer Freude auf jedes Mikrofon und jede Kamera in ihrer Nähe zusteuern. Insofern ist der Blick von Ramazan Başak ein indirekter Beweis für die innere Verwandtschaft der türkischen Demokratie mit allen anderen Demokratien der Welt. Sie alle wählen sich ihre Fürsten und Prinzen ja selbst aus, und indem sie diese auswählen, schaffen sie ein Magnetfeld um sie herum, das in gleicher Weise die Bewegung des Volkes wie auch die des vom Volk hervorgehobenen Menschen bestimmt.

Etwas Irrationales haftet dieser Bewegung an. Manchmal denke ich, daß jeder größeren Gruppe von Menschen die Gabe zu eigen ist, aus sich selbst heraus ein selbständig agierendes Willenszentrum zu erschaffen, ein eigenes Agens, fast so etwas wie einen kleinen, gutartigen Dämon. Der schlüpft dann in den Stadtverordneten, den Bürgermeister oder den Präsidenten und läßt uns – die wir ihn doch geschaffen haben – tief erschauern, wenn wir von seiner Gegenwart berührt werden.

Das Lächeln der schönen Yağmur Bayrak überhöhte diesen Eindruck noch. Auch sie war gefangen von der mächtigen Personifizierung des Gemeinschaftswillens in Herrn Ramazan Başak, und ihr Lächeln schien fast zu sagen, daß sie in großer Liebe zu ihm entbrannt war. Vermutlich war sie es nicht, sie lächelte sicherlich immer so, wenn die Kamera lief. Aber Herr Başak wird es möglicherweise, wahrscheinlich sogar, so gedeutet haben, enthusiasmiert wie er war durch eine Welt, die sich ihm dergestalt von allen Seiten zuneigte.

Bill Clinton fiel mir ein, der von Frauen geliebte und gefährdete, und der von einer schönen Frau zu Fall gebrachte demokratische Präsidentschaftskandidat John Ed-wards. Sein zum Absturz führendes Lächeln kann man heute noch – von der schönen Frau persönlich gefilmt, einer für viel Geld angeheuerten Werbeberaterin namens Rielle Hunter – im Internet ansehen kann.

Man muß ein gewisses Erbarmen mit diesen Männern haben, deren Zauber kaum jemanden kalt läßt, besonders die schönen Frauen nicht. Und man muß dem sympathischen Ramazan Başak wünschen, daß er sich nicht gefangennehmen läßt, wenn ihn ein Frauenlächeln einmal allzu stark trifft.


Nimrod, der Jäger
Urfa, 23. Oktober 2009

Der erste Mensch, der sich nach der Bibel an die Spitze eines Königreichs setzte, war Nimrod. Er war der Urenkel von Noah und sein Reich begann, wie Genesis 10 sagt, in Babel. Viele Nationen bis weit nach Asien hinein feiern sein Gedächtnis. Die Türken besitzen den Berg Nimrod, Nemrut Dağ, schön gelegen in Nemrut Nationalpark - wir sind heute auf dem Weg dorthin.


Die Bibel nennt Nimrod den ersten gibor, den ersten Gewaltigen, und auch gibor zayid, einen gewaltigen Jäger. In meiner Vorstellung rührt seine wilde Kraft aus der Fähigkeit, die beiden Pole der prähistorischen Existenz in sich selbst zu versöhnen. Sie bestanden darin, sich entweder als ein Bauer niederzulassen oder als ein Nomade die Welt zu durchstreifen. Nimrod ließ sich einerseits nieder und gründete Städte wie Ninive, blieb andererseits aber als Jäger ein umherstreifender Mensch. Indem er die Stärken der beiden Wege kombinierte, wurde er in meiner Vorstellung unbesiegbar.

Sein Name erinnert an marad in Hebräisch, was bedeutet, gegen jemanden zu rebellieren. Er war gewiß ein Mann, den man fürchten mußte.

Der Koran macht ihn für ein übles Verbrechen verantwortlich, die versuchte Verbrennung des den vorherrschenden Polytheismus in Frage stellenden Abraham (Sure 21) Hier intervenierte Gott persönlich gegen Nimrod, indem er das Feuer aufrief, kalt zu sein. Abraham entkam dem Feuer, ohne eine einzige Verletzung.

Die große Halil-Rahman-Moschee in Șanlıurfa feiert mit ihren vielen Teichen und Kanälen das Rettungswunder und sieht in den unzähligen dort lebenden Karpfen Nachkommen der damals wundersam in Fische verwandelten Holzscheite.

Nimrod Vater war ein Mann namens Kusch, wie Genesis 10 erzählt. Kusch war wiederum Hams Sohn und Ham war der zweite Sohn von Noah, derjenige, von dem gesagt wird, er sei der Vater aller Afrikaner. Kuschs Name überlebte in den kuschitischen Sprachen, die in Ostafrika gesprochen werden. Nimmt man Nimrods Herkunft eher in dieser Gegend an, so würde es ihn näher an Äthiopien bringen und nicht nach Babel im heutigen Irak. Es würde ihm außerdem eine dunkle Hautfarbe geben.

Wie auch immer - Nimrod ist ein interessanter Vorfahr für viele, darunter auch die Ungarn, die behaupten, daß er die Zwillinge Hunor (Vater der Hunnen) und Magor (Vater der Magyaren) gezeugt habe.


Gizeh-Pyramiden in alpinen Höhen
Adiyaman, 24. Oktober 2009

Das Grab des Antiochos I., Kaiser des freien Königreichs Kommagene, sieht aus wie eine ägyptische Pyramide, die man hoch oben auf einen Schweizer Berg gestellt hat. Ich habe selten einen so spektakulären Anblick gesehen, die Fotos geben den Eindruck nur ungenügend wieder. Die Pyramide ist schon aus mehr als 50 km Entfernung sichtbar und erscheint immer unglaublicher, wenn man sich dem Berg auf gewundenen Alpenstraßen nähert. Die Kommagene-Menschen haben in weltweit einzigartiger Weise das Gesicht einer ganzen Berglandschaft verändert.

Im Vergleich zu den Pyramiden von Gizeh in Kairo, deren ursprüngliche Höhe bei etwa 150 m liegt, ist der kegelförmige Schotterhügel, der hier aufgeschichtet wurde, mit nur 50 m vergleichsweise klein, sitzt aber auf der Spitze eines Berges, der mit mehr als 2.100 m höher ist als alle anderen Gipfel der Umgebung. Dies ist der Berg Nimrod, Nemrut Dağ.

Ich hatte nie etwas über das Königreich Kommagene in meinem Geschichtsunterricht gehört. Es hat offenbar keine eigenen schriftlichen Zeugnisse hinterlassen. Die Historiker nehmen an, daß es identisch ist mit dem Volk der Kummuhu, das in assyrischen Texten erwähnt wird. Die Familie des Königs Antiochos I., der sich Theos, der Gott der Kommagene genannt hat, beanspruchte für sich, die Ahnenreihe sowohl auf Alexander den Großen als auch auf Darius, den persischen König, zurückführen zu können.

Antiochos I. lebte von 86 bis 38 vor Christus. Seine Nachfolger versuchten, ihre Unabhängigkeit von Rom zu erhalten, verloren sie, gewannen sie erneut und verloren sie dann endgültig im Jahre 72 n. Chr, darin den teilweise ja ebenfalls (unter Herodes dem Großen) unabhängigen Juden zeitgleich. Die westliche Geschichte vergaß die Kommagene-Menschen, bis im Jahre 1881 ein deutscher Ingenieur, Karl Sester, beim Bau von Straßen in Anatolien ihre Spuren wiederentdeckte.

Die Statuen um den Schotterhügel herum sind relativ gut erhalten. Experten sehen in ihren lebendigen Gesichtern griechische und persische Kunst vereint. Meine Lieblingsfigur ist der Adler mit seinem harmonischen und gleichzeitig auch abstrakten Design. Die Wahrheit ist einfach, sagt der Kopf. Und stark.

Die Wahrheit über eine versöhnende Kultur, im Frieden mit den Nachbarn, ausgewogen zwischen Ost und West, könnte sein: Wenn du zu allen gut bist, wird sich niemand an dich erinnern. Bad boys machen Geschichte, good boys werden vergessen.

Man wünscht sich, es wäre umgekehrt.


Türkische Freundlichkeit
Gaziantep, 25.Oktober 2009

Das Interessanteste an der Türkei ist, geht man von den Fragen aus, die danach gestellt werden, und nach der Aufmerksamkeit, die sich darauf richtet, die Person des Touristen. Türken sind in Bezug auf alles Fremde neugierige Menschen, besonders die Kinder.

Ich habe es schon 1971 erlebt, als ich in einer Istanbuler Bank arbeitete, und war auch in diesen Tagen wieder neu erstaunt: wie sie alle einen höflichen Abstand zu dem Fremden in ihrer Mitte halten, einen großen formalen Respekt, und wie sie trotzdem gleichzeitig eine charmante, wißbegierige Offenheit zeigen. Sie tun das auf eine wohlerzogene Art und Weise, stolz auf die eigene Person und jederzeit erhobenen Hauptes im Gespräch mit dem Fremden.

Bemerkenswert finde ich auch die natürliche Begabung zu dienen, die man in der Türkei überall findet. Ich liebe die Art, in der die Kellner in einem Restaurant oder Teehaus ihre Kunden behandeln. Bei vielen vermutet man, daß sie noch Schuljungen sind, sieht man auf ihr Alter und auf die oft legeren Sachen, die sie tragen. In vielen kleineren Restaurants und auch in den Läden sind die meisten Bediensteten keine alterfahrenen Profis, viele arbeiten dort vermutlich für ihre Familie, stundenweise, neben einem anderen Beruf oder einer Schulausbildung.
Durch ihren Einsatz sehen hier viele Geschäfte ein wenig überausgestattet aus, was das Personal betrifft. Man sieht dort selten einmal einen Menschen ganz allein arbeiten, meist hat er einen oder zwei Gefährten. Es sieht so aus, als wäre die Arbeit eine Sache, die man aus Solidarität mit seinem Nächsten auf mehrere Nutznießer aufzuteilen hat.

Die Jungen und manchmal auch Mädchen bedienen gut und haben einen guten Blick für das, was der Gast braucht. Sie sind dabei aber nie unterwürfig, zeigen nie, daß der Gast von einer besseren Klasse ist als man selbst, nur weil er es sich leisten kann, die Dinge zu bezahlen, die man gerade serviert.

Sie halten sich kerzengerade, sie sehen aus, als wenn sie sich auf eine gute Weise selbst gern haben und die verborgene Würde in allem entdecken, was sie tun. Man sieht sie nie über einen schwierigen Kunden mit den Augen rollen oder unhöflich antworten, wenn der Gast sie kritisiert – diese typisch deutsche Kellnerkrankheit ist hier noch nicht angekommen. Sie verhalten sich als ob ihre eigene berufliche Qualität ein unbestrittener Wert ist, über jeden Zweifel erhaben.

Türke sei stolz, arbeite und vertraue! So lautet eines der berühmten Worte Atatürks. Als ich das noble Äußere und die feinen Züge des jungen Mannes in Şanlıurfa sah, der mit der Reinigung der Herrentoilette betraut war, ohne das geringste äußere Zeichen eines Bewußtseins, hier „niedrige“ Arbeit zu verrichten, hatte ich eine Idee wessen Gedanken er folgte. Vielleicht wird er in 20 Jahren der Bürgermeister der Stadt sein.


Synchronisation
Remscheid, 26. Oktober 2009

Unsere Reisegruppe bestand aus einer deutsch-türkischen Familie (Eltern und zwei Jungen im Alter von 10 und 12 Jahren), einem jungen, verheirateten Deutsch-Türken, der alleine mit uns reiste, und acht Deutschen, ich füge an: mit deutschen Vorfahren, denn von unseren Pässen her waren wir alle Deutsche. Wenn man als Gruppe für lange Stunden zusammen in einem Bus sitzt, dann bedeutet das, seine Wünsche synchronisieren zu müssen – essen wollen, trinken, schlafen und wegen einer Toilette anhalten. Ich kann sagen: es ging alles gut, auch wenn es einige Gewohnheiten in den Zeitrhythmus einzuarbeiten gab, die möglicherweise einem Teil der Gruppe auf den ersten Blick seltsam erschienen.

Das erste Problem bestand in den regelmäßigen moslemischen Gebeten, fünfmal am Tag. Die Gebete in den frühen Morgenstunden und am späten Abend konnten in der Privatsphäre eines Hotelzimmers verrichtet werden, aber vor allem die Gebete um die Mittagszeit und am frühen Nachmittag fielen regelmäßig in Zeiten, in denen die Gruppe unterwegs oder beim Besuch einer Sehenswürdigkeit war. Manchmal stahlen sich Nureddin und Murat, die beiden Männer, die zu allen fünf Zeiten jeden Tag treulich beteten, nur still von unserer Gruppe weg, in Richtung auf eine Moschee oder einen Nebenraum. Oft hatte die Gruppe zu dieser Zeit gerade eine Teepause. Wir wußten, daß die beiden beteten und hatten nie Probleme mit Verzögerungen durch die Gebetszeiten.

Ein weiteres Problem war die Gewohnheit von Nureddins Frau Nilüfer, ein Kopftuch zu tragen und außerdem relativ warme Kleidung in einem manchmal durchaus noch sommerlichen Wetter. Die anderen Frauen in ihren T-Shirts und dünnen Blusen litten offenbar mit der armen Geschlechtsgenossin, die nach ihrem Eindruck in einer schweren religiösen Pflicht gefangen war. Selbst wenn Nilüfer mit Freude bezeugte, daß sie kein Problem mit der Hitze habe, blieb doch die unausgesprochene Frage: wer liegt richtig und wer falsch mit seiner jeweiligen Be-kleidung?

Es ging dabei aber nicht nur um die Hitze und den Schutz davor. Die Frage war auch: wenn eine Frau sich nach dem Koran vor den Begierden der Männer schüt-zen sollte, warum zeigen dann manche Frauen so offen und unbekümmert ihre körperlichen Merkmale? Und wie sollen die Männer reagieren - ist ein Kopftuch nicht ein klares Signal an einen Mann: sieh mich nicht an, sprich am besten erst gar nicht mit mir? Wenn alle Menschen eine Waffe gegen Diebe tragen würden, fühlte man sich vermutlich bald wie ein Dieb unter ihnen. Wenn Frauen in Panzern und Rüstungen gegen männliche Wünsche erscheinen, können Männer manchmal Schuldgefühle bekommen.

Nun kenne ich Nilüfer lange genug, um zu wissen, daß sie nicht in Waffen gegen mich steht. Ich hatte viele lange Gespräche mit ihr und manchmal zeigte ich ihr meine Freundschaft mit einem spontanen „Highfive“- Abklatschen (was ja kein Händeschütteln ist und sich deshalb – nach meiner freien Koran-Interpretation – auch mit strengen Regeln unter Gläubigen verträgt). Wir hatten einen fröhlichen und unbekümmerten Umgang miteinander.
Ich bin insgesamt zu dem Schluß gekommen, daß das Tragen dieser oder jener Art muslimischer Kleidung keine Frage ist, derer man mit Verwaltungsvorschriften Herr werden kann ("Nein" an deutschen Schulen und türkische Universitäten, "Ja" in Restaurants, öffentlichen Einrichtungen usw.). Es ist eine sehr persönliche Entscheidung und bringt unweigerlich als erstes demjenigen Probleme, der sich für engere Vorschriften entscheidet, also der Frau. Sie weiß, daß die Wärme unter einem Kopftuch lästig sein kann, sie weiß, daß ihre Schwester vielleicht anders ent-scheidet (und die Menschen sie dann nach dem Grund für den Unterschied fragen), sie kennt die Blicke, die sie sie in einer typischen „deutschen“ Umgebung bekommt, etwa in einem Restaurant.

Sie kennt alles diese Probleme selbst am besten. Deshalb ist es nicht meine Aufgabe, sie nun auch noch meinerseits über meine eventuellen Probleme mit ihrer Kleidung aufzuklären. Meine Aufgabe ist es, ihr Leben mit meinem zu synchronisieren, zeitgleich zu machen, ihr Leben möglich zu machen so wie andere Leute mein Leben möglich machen.
Synchronisation bedeutet umgekehrt vielleicht auch, daß ich einen moslemischen Freund mit meinen alkoholischen Trinkgewohnheiten versöhne. Ich bin nach Hause gekommen mit der Entscheidung, ein wenig Wein zu trinken, wenn Nureddin und Murat mich besuchen – ich möchte sie verstehen lassen, wie eine sinnvolle Nutzung des Alkohols zu einem Teil der Freude wird, die mein christli-cher Glaube mir erlaubt.

Die offene Gesellschaft toleriert eine große Bandbreite von unterschiedlichen Le-bensweisen. Es gibt Nachbarn neben uns mit sehr anderen Ideen, was die Gestaltung ihres Lebens betrifft. Wir machen Platz für sie, und manchmal genießen wir es sogar, daß unser Leben bunter mit ihnen wird als ohne sie.

Die Gülen-Bewegung ist eine große Hilfe in all diesen Synchronisationen. Alle Gülen-Leute, die ich traf, waren gut ausgebildete, beruflich erfolgreiche Männer. Der Rhythmus ihrer und meiner Welt ist von modernen Informationstechnologien bestimmt, von harten Zeitplänen, in der Regel von der Sechs-Tage-Woche der industrialisierten Welt. Das alles will mit ihren ererbten moslemischen Traditionen versöhnt werden – wer leitet sie dazu an?
Wenn sie Wegweisung bei den alten Imamen der Dörfer oder Städte suchen würden, aus denen sie kamen, würden sie kaum einen guten Rat erwarten können, wie man als Moslem in einer Welt wie dieser leben kann. Hier kommt Fethullah Gülen ins Spiel, als ein moderner geistlicher Leiter. Er gehört zur Welt der Aufklä-rung, wie sie nach 1700 auf uns gekommen ist. Er fordert seine Anhänger auf, die moderne Welt zu akzeptieren, sie persönlich mit Optimismus, Mitgefühl und Glauben für sich selbst zu erobern.

Und er wiederholt in einer moslemischen Weise, was der schwedische Schriftsteller Per Olov Enquist über eine besondere Gruppe Christen in der Aufklärungszeit gesagt hat, die „Pietisten“ aus der Stadt Halle: die Aufklärung und eine fromme Renaissance sind zwei Seiten der gleichen Medaille. Die Pietisten um August Hermann Francke lebten (wenn auch nicht immer ohne Spannungen) mit den führenden Philosophen der damaligen Zeit in unmittelbarer Nachbarschaft zusammen. Und sie begannen damals eine große Sozialarbeit, ähnlich wie Gülen, auch Francke gründete Schulen und Nachhilfe-Organisationen.

Ich bin nach Hause gekommen mit dem festen Vorsatz, Menschen zu helfen, ihr Leben mit meinem zu synchronisieren. Da ich älter werde, benötige ich selbst zunehmend Synchronisation. Vielleicht zahlt sich meine Strategie am Ende für mich selbst aus.