Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Besucher der Ausstellung von Mirza Odabaşı, liebe Angehörige, liebe Freunde,
Ich bin.
Aber ich habe mich nicht.
Darum werden wir erst.
Diese Worte sind meiner Generation, die in den sechziger Jahren ihre Jugend verlebt hat, als ein dunkles Rätsel erschienen, aber auch als eine Verheißung, deren Inhalt man eher erfühlen als klar erkennen konnte.
Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst. - das sollte uns damals einerseits deutlich machen, dass unsere bloße Existenz nicht ausreicht, diese auch zu erklären, sich also in den Worten von Bloch "selbst zu haben." Und es sollte zweitens sagen, und das ist der eher rätselhafte Teil des Satzes, dass diese Erklärung wohl nur über den Weg über ein "wir" zu erhalten war.
Ich verstehe den Gedanken heute so, dass Ernst Bloch, der ein Sozialist war, gleich an den Anfang seiner Überlegungen auf einen gesellschaftlichen Prozess hinweisen wollte. Er sagt: ich kann nicht alleine wissen, wer und warum ich bin, ich brauche dazu die Gesellschaft meiner Mitmenschen. Diesen Satz kann man sicherlich unterschreiben, auch ohne Sozialist zu sein. Wir sind das, was wir sind, auch immer vor dem Hintergrund der großen oder kleinen Menschengruppe, aus der wir abstammen.
Deshalb vermute ich, dass sich Ernst Bloch, der 1977 gestorben ist, gefreut hätte, hier heute einen jungen Mann zu finden, der über seine radikalen Fotos der Frage nachgeht, wie eine Kultur es erreicht, dass aus ihrem „wir“ ein „ich“ wird, dass also ihre Mitglieder eine Identität, ein Gesicht erhalten – oder aber auch, wie sie es manchmal verhindert.
Mirza Odabaşı hat diese Frage erst einmal verkompliziert, Sie werden das an seinen Bildern und dem Video, das er gemacht hat, gleich sehen. Mirza hat die widersprüchliche gesellschaftliche und kulturelle Situation in den Blick genommen, in der er mit seiner Generation steht. Was ist, so fragt er, wenn das "wir" um uns herum gar keine geschlossene Gesellschaft oder Kultur ist, sondern vielmehr aus einem Zwischenraum zwischen zwei unterschiedlichen Kulturen besteht? Und schlimmer noch: was ist, wenn diese beiden Kulturen, die uns also sagen sollten, wer wir sind, gar keine eindeutigen Antworten geben?
Zwei Beispiele dazu: der deutsche Bundespräsident Wulff findet einladende Worte gegenüber den deutschen Türken, sich als Teil der deutschen Kultur zu verstehen, wird aber von dem lauten Lärm seiner Kritiker kurz danach schon fast wieder unhörbar gemacht. Oder: der türkische Ministerpräsident Erdogan kommt nach Deutschland zu Besuch und versichert uns, dass eine blutende Nase von seinen Landsleuten hier in Deutschland ihm so weh tut, als ob es seine eigene Nase wäre. Aber es bleibt undeutlich, was er wirklich fern von zuhause tun kann, was er gegen das Nasenbluten ausrichten kann.
In der täglichen Praxis drücken sich dann die deutschen Deutschen auch entsprechend undeutlich darum herum, den deutschen Türken klar zu sagen, dass sie in diesem Land ohne wenn und aber willkommen sind. Die türkischen Türken schauen umgekehrt den als Touristen angereisten Almancı ebenfalls kritisch an und wissen nicht recht, wie sie ihn einordnen sollen. Das alles versetzt Mirza und seine Generation in die Zwischenkultur, von der er hier berichtet.
Ich habe vor zwei Wochen lange mit Mirza über seine Bilder geredet und mit ihm über das große Fragezeichen nachgedacht, das er mit jedem einzelnen Bild heute an die Wände gehängt hat. Ich habe ein wenig von den Wegen seines Vaters Metin und seines Großvaters, der ebenfalls Mirza heißt und vor 40 Jahren nach Deutschland gekommen ist, erfahren. Es sind Wege, die in gewisser Weise typisch für die 50 Jahre währende Geschichte der deutschen Türken sind.
Diese Geschichte habe ich selbst fast vollständig beobachten können, auf jeden Fall 40 Jahre davon, und das recht intensiv, nachdem ich im Jahre 1971 für zwei Monate ein Praktikum in einer Istanbuler Bank gemacht habe. Danach war die Türkei ein ganz natürliches Objekt meines Interesses, und ich habe ab dann auch immer die Namen der führenden Politiker gekannt und oft auch die Tabellenplätze von Galatasaray, Fenerbahce und Besiktas - und das in einer Zeit, als die deutschen Fernsehsprecher noch BeSICKtas und Gasalataray zu diesen Mannschaften sagten. Und ich habe natürlich gerade in meiner Heimatstadt Remscheid mit ihrem hohen Anteil an zugewanderten Türken ganz aus der Nähe beobachten können, was mit den Menschen geschah, die aus dem sonnigen Anatolien in meine regnerische Heimat kamen.
Ich habe aus der Sympathie für ihr schönes Herkunftsland und seine Menschen über die Jahre eine kleine private Vision entwickelt, über die ich jetzt voller Freude sagen kann, dass Mirza sie mit mir teilt. Wir waren uns in unserem Gespräch recht schnell darüber einig, dass nach seinem Fragezeichen - wer bin ich in einer zweifachen Kultur, von der sich keine als vollkommene Heimat anbietet? - am Ende ein Ausrufungszeichen stehen könnte. Dieses Ausrufungszeichen könnte so aussehen, dass aus der hier in Mirzas Bildern noch einmal sehr deutlich dargestellten Zwischenkultur, dass mitten aus dieser Kultur in den nächsten Jahren eine neue eigene Kultur entsteht, die nicht mehr "zwischen", nicht mehr deutsch ist und nicht mehr türkisch, sondern etwas Neues, europäisch oder vielleicht sogar global.
Manchmal stelle ich mir das anhand der deutschen Fahne vor, die man ja nicht einmal ändern muss, wenn man das Rot der Türkei in sie integrieren will. Es ist ja bereits da. Vielleicht baut man diese Fahne eines Tages ganz neu zusammen und integriert weitere Farben in sie hinein, wie etwa das Grün des Islam. Vielleicht darf in den roten Balken auch ein kleiner Mond mit einem Stern hinein, aber bevor sie hier Beifall klatschen, sage ich natürlich umgehend, dass dann in den schwarzen Balken auch ein Kreuz hinein gehört (und meinetwegen auch ein weißer Fleck in den gelben Balken, damit auch die Atheisten ihren Punkt haben).
Wie auch immer - wenn die zweite und dritte Generation der deutschen Türken die sicherlich nicht immer einfache Last auf sich nimmt, das Wort "deutsch" und das Wort "türkisch" für sich ganz neu zu definieren, dann könnte das Wort von Bloch - ich bin, aber ich habe mich nicht, darum werden wir erst – und die zögernden und tastenden Fragen, die in Mirzas Bildern stecken, am Ende eine kräftige und zukunftsfähige Antwort bekommen.
Und noch etwas Zweites, zum Schluss. Ich war mir mit Mirza außerdem auch darüber einig, dass es über die Frage der nationalen und kulturellen Identität etwas Drittes, Höheres gibt, von dem wir beide überzeugt sind, dass es unsere letzte "Heimat der Identität" (auch das ein Wort von Ernst Bloch, das Ziel seiner Anfangsworte sozusagen) begründet, unser Glaube nämlich.
Die Menschen des Glaubens sind im Himmel zuhause, und das verbindet sie, auch wenn ihre jeweiligen Textbücher, Koran und Bibel, ganz unterschiedliche Aussagen darüber treffen, wie es dort aussieht und wie man dorthin kommt.
Ich habe in den letzten vier oder fünf Jahren unter Mirzas Freunden eine Reihe von neuen Freunden gefunden, mit denen mich bei allen religiösen Differenzen doch dieser Blick zum Himmel vereint, und dazu die Gewissheit, dass die Frage, wer wir sind und wie wir unserer selbst „habhaft“ werden können, um in der Sprache von Ernst Bloch zu bleiben, nicht in Ankara und Berlin entschieden wird. Nein, sie wird in einem lebenslangen Prozess beantwortet, der aus der Beschäftigung mit Gott, mit dem Glauben und mit den heiligen Büchern entsteht. Auch das gehört zu Mirzas Bildern, dass sie mit den Augen eines Menschen aufgenommen sind, der in der Hoffnung lebt, dass der Schöpfer all dieser Gesichter aus ihren undeutlichen Zügen nach und nach etwas Fertiges und Festes und Schönes macht.
Wir leben alle von der Gnade dieses Schöpfers und vertrauen, dass er unsere Gesichter so verändert, dass sie schließlich ein wenig von seiner Größe und seiner Barmherzigkeit widerspiegeln können.
Inschallah! Es möge so werden!
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