Samstag, 21. Januar 2012

Engelszungen auf dem Davidsstern


Die sternförmige Kreuzung von Allenby-, King Georg- und Sheinken-Street im Herzen von Tel Aviv wird „Davidsstern“ genannt. Hier treffen wir auf eine etwa 30 Personen starke Gruppe von jungen Koreanern, die in zwei konzentrischen Kreisen um einen kleinen inneren Zirkel versammelt ist, in dem ein stämmiger Mann in einem hellen Hemd laut und schnell betet. Er stößt die Worte wie ein extatischer Prediger aus, drängend, bestimmend, seiner Sache sicher. Die Umstehenden quittieren sie mit zustimmenden Lauten, einige Männer haben die Hände zum Himmel erhoben, Mädchen weinen.
In das immer stärker werdende Beten des Mannes mischt sich mehr und mehr ein hohes Stimmenflimmern – die Umherstehenden beginnen einen Chor von vogelstimmenartigen Lauten, die sich wie „bl-bl-bl-bl-bl“ oder „lib-lib-lib-lib-lib“ anhören. Die Leute sind Christen aus der charismatischen Bewegung, da bin ich mir sicher, sie reden in Zungen, oder versuchen es, und der Anführer und Vorbeter wird in diesem Moment die Stadt und das Land unter die Herrschaft Christi stellen, den Sieg über den Satan und allen Unglauben und alle Verkehrtheit ausrufen, und die Verdammnis über alles heraufbeschwören , was sich Jesus in den Weg stellen will. Und die Umherstehenden sagen Amen dazu und bl-bl-bl und lib-lib-lib.
Ich habe oft bei Straßenevangelisten gestanden und habe trotz aller Exaltiertheit dieser Leute oft eine tiefe innere Sympathie für sie empfunden. Sie haben den Geist des Heidenapostels Paulus. Am Davidsstern will sich meine Sympathie nicht einstellen, auch wenn das Engagement dieser aus großer Ferne angereisten Missionare sicherlich überwältigend ist. Der nach innen gewandte Kreis, die fehlende sprachliche Brücke (der Mann betete in seiner eigenen Sprache), das Vogelgezwitscher, das ein Ersatz für das urchristliche Reden in (Engels-) Zungen sein soll, alles das schien mir ein Erweis einer ausschließlich menschengemachten Bewegung zu sein. Die Einheimischen zeigten sich entsprechend auch weder angegriffen noch beeindruckt, sie gingen rasch weiter.
In einigem Abstand zu der Gruppe saß ein weiterer Koreaner hinter einer Auslage von Anoraks, die er offenbar zum Verkauf anbot. Er blickt still und etwas unbeteiligt und gehörte nach meinem Eindruck nicht zu den Missionaren. Erst als diese den Gebetskreis auflösten, sah ich, daß sie sich den großen Vorrat an Anoraks bei dem jungen Mann wieder abholten. Er hatte also offenbar darauf aufgepaßt.
Ich habe im Gespräch mit deutschen Türken oft die These aufgestellt, daß die Türkei erst dann wirklich als tolerant und frei gelten wird, wenn auf dem Taksim-Platz in Istanbul ein brasilianischer Missionar auf einer Apfelsinenkiste stehend predigen darf. Diesen Freiheitstest bestehen die Israelis offenbar recht gut, auf jeden Fall hier in Tel Aviv.

1 Kommentar:

Nureddin Öztas hat gesagt…

Ja, auf dem Taksim-Platz bräuchte man evtl. eine Genehmigung. Die Erfolgsaussichten für eine derartige Kundgebung sind wahrscheinlich gering. Zur Verteidigung der türkischen Offiziellen, muss allerdings der Unterschied einer eher typischen Einkaufsstraße Istanbuls und dem Ort der das heilige Land für alle 3 monotheistischen Religionen ist, gedacht werden. Was wäre, wenn ein muslimischer Prediger in Düsseldorfer Kö auf die Apfelsinenkiste steigen und predigen würde? oder in Rom? Ich vermute, das Gleiche wie in Istanbul.