Samstag, 9. Februar 2013

Die unsichtbare Frau

Kafr Malik, 26. Januar 2013

Bei Masada in Kafr Malik
Bei sieben Familien waren wir zu Gast, rechnet man den Besuch im Gemeindehaus bei Pastor Nael von den Anglikanern in Zababda mit ein. Nur bei zweien davon haben wir neben dem Vater der Familie auch die Mutter gesehen – bei Nael und Mira und bei Abdu und Masada hier in Kafr Malik (siehe Foto). Überall sonst sind wir auf das Phänomen der unsichtbaren Frau gestoßen, sie blieb uns verborgen.

Das hat mich etwas überrascht, auch wenn ich es aus den Besuchen bei vielen türkischen Familien in Deutschland und der Türkei gut kenne, dass die Lebensbereiche der Männer und der Frauen vielfach getrennt sind. Das bedeutet zunächst, dass Kontakte zwischen den Geschlechtern durch eine alternative Gestaltung des Besuchsprogramms – spätestens nach dem Essen treffen sich die Männer im Wohnzimmer und die Frauen, auch die der Gäste, in der Küche – auf ein Minimum beschränkt werden, dass die Frauen Kopftücher tragen und auch, besonders bei den älteren Frauen in der Türkei, dass sie es bei der Begrüßung offenkundig vorziehen, wenn man ihnen nicht die Hand gibt. Wenn man die Grenzen kennt und achtet, hat man mit dieser Art der Geschlechtertrennung nie Probleme.

Habibs Haus mit unserem Wohnbereich hinter der offenen Tür
und dem Bereich der Familie
 
Anders in Palästina. Hier sind, wenn ich das richtig verstanden habe, die Bereiche auch in kleineren Wohnungen so aufgeteilt, dass sich der Hausherr mit seinen Gästen in aller Ruhe in dem einen Teil der Wohnung frei bewegen kann und die Mutter mit den Mädchen ab einem bestimmten Alter in einem anderen Teil. In meiner Erinnerung gab es überall eine Tür, einen Vorhang, ein Stück nicht einsehbaren Flur, hinter der sich die hörbare aber nicht sichtbare Welt der Frauen befand. Diese war immer eine sehr produktive Welt – fragte der Gastgeber, ob man Tee wolle, und man sagte Ja, dann bewegte sich meist einer der Söhne dezent in Richtung dieser Welt, überbrachte die Botschaft, und wenig später erschien dann in der Regel der jüngere Bruder lächelnd und selbstbewusst mit einem Tablett, auf dem das gewünschte in schöner Form präsentiert wurde.
Ahmed, einer der Männer, dessen Frau wir nicht zu Gesicht bekamen, erzählte mir die anrührende Geschichte seiner Liebe zu dieser Frau und seiner Verheiratung mit ihr. Vor etwa 20 Jahren, es war in politisch turbulenten Zeiten, beschloss Ahmeds Mutter („Sie ist die stärkere in der Ehe meiner Eltern“, sagt Ahmed), dass jetzt die Zeit für den damals 21jährige Ahmed zum Heiraten gekommen sei. Ahmed selbst war wenig von diesem Gedanken überzeugt und hielt seine Mutter deshalb mit Ausreden hin. Eines Tages kam er nach einem längeren Aufenthalt an einem anderen Ort Hause und fand dort einen betreten vor sich blickenden Vater vor. „Deine Mutter stirbt“, sagte er, „geh selbst in ihr Zimmer und sieh, was passiert ist.“ Und in der Tat – die Mutter lag stark abgemagert und entkräftet auf dem Bett, nur noch ein Rest von der Person, die sie einmal gewesen war.
Was war geschehen? Ahmed erfuhr es aus dem Mund der Mutter: sie war in einen Hungerstreik getreten, mit dem Ziel, Ahmed zum Heiraten zu zwingen. Ohne eine andere Wahl zu haben, versprach er ihr ohne zu Zögern, jetzt umgehend zu heiraten. Dabei machte er ihr aber auch klar, dass das nicht so einfach sei. Wo sollte er ein Mädchen finden? Das, sagte die Mutter, solle er ihr Problem sein lassen.
Und in der Tat vergingen nur wenige Tage, bis Ahmed zu einem Termin bei einer Familie im Ort beordert wurde, die eine heiratsfähige, Ahmed aber bislang unbekannte Tochter hatte. Die Mutter hatte alles arrangiert. Es war ein Teil der Brautfamilie da, Eltern, einige ältere Brüder, es waren Ahmeds Eltern da, ebenfalls durch große Brüder verstärkt, es waren weitere Honoratioren des Dorfes da, der Schuldirektor und andere ältere Leute, es war Ahmed da – nur die Braut fehlte.
Der Schuldirektor ergriff das Wort. Nach den üblichen Formeln – bismillah rahim, im Namen Gottes des Barmherzigen usw. – setzte er etwa so an, dass er die, wie er sagte, allseits bekannte Vorzüge von Ahmeds ehrwürdiger Familie aufzählte und ihre positive Rolle in der Gemeinschaft der kleinen Stadt beschrieb. Ein weiterer Sprecher fand sodann lobende Worte auch für Ahmed selbst, der Apfel war nicht weit vom Stamm gefallen, und Stamm und Apfel waren gut. Nun war ein anderer an der Reihe, der es übernahm, die Familie der Braut zu würdigen und dann wieder ein anderer, der für die Braut sprach.
Nachdem dies geschehen war, blickte man sich an und nickte allerseits zustimmend und überzeugt, dass nun einem Ehevertrag nichts mehr im Wege stand. Der wurde dann auch vom Schuldirektor, der zu solchen Amtshandlungen bevollmächtigt war, hervorgeholt, in einigen Punkten ergänzt und sodann von ihm, dem Schuldirektor, einigen Zeugen und den Vätern unterschrieben.   
Ahmed hatte dem allen nur nervös und in der Hoffnung zugehört, dass bald alles zu Ende sei, als angekündigt würde, dass nunmehr die Braut hereinkommen und den Gästen Kaffee servieren würde. „Christian“, sagte Ahmed mir, „als sie hereinkam, war mir, als ob ein Berg auf meinen Schultern lag. Ich konnte unmöglich zu ihr aufschauen!“ Er sah noch, dass sie ein blaues Kleid trug, alles andere verschwamm, aber als das Blau sich dann auf ihn zu bewegte und aus dem Blau eine Tasse Kaffee herausgereicht und in seine Hände gedrückt wurde, zitterten diese plötzlich so, dass er die Tasse fallen ließ und den gesamten Inhalt über seine Hose schüttete.
Eigenartigerweise wurde der Vorfall mit Heiterkeit und großem Beifall aufgenommen: das war ein gutes Vorzeichen, sagten alle. Die Braut verschwand, man trank den Kaffee, man verabschiedete sich.
Einige Wochen später – Ahmed hatte weiterhin seine mittlerweile legal mit ihm verheiratete Frau nicht gesehen – wurde ein Fest veranstaltet, auf dem die Braut weiter unsichtbar blieb. Es waren verschiedene Mädchen da, aber da alle in Blau erschienen waren, konnte Ahmed sein Frau nicht unter ihnen ausmachen. Der Abend verging, man kehrte heim – ohne Ahmeds Frau.
Haus in einem Flüchtlingscamp
Erst als die Nachbarn in einem traditionellen Zug die Braut in Ahmeds Haus brachten, bekam er sie erstmals zu Gesicht, aber nun für immer. Etwas Eigenartiges geschah: „Habe keine Angst“, sagte sie, „ich habe dich vorher beobachtet, ich kannte dich. Ich war mit der Ehe einverstanden und habe dich nicht nur aus Pflicht geheiratet.“
Nach dieser Geschichte war es mir dann nicht mehr schwer, mich mit dem Gedanken abzufinden, dass es mir heute und morgen nicht besser gehen würde als Ahmed in seinen ersten Ehewochen: auch ich bekam seine Frau nicht zu Gesicht.

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