Bei Masada in Kafr Malik |
Das hat mich etwas überrascht, auch wenn ich es aus den Besuchen bei vielen türkischen Familien in Deutschland und der Türkei gut kenne, dass die Lebensbereiche der Männer und der Frauen vielfach getrennt sind. Das bedeutet zunächst, dass Kontakte zwischen den Geschlechtern durch eine alternative Gestaltung des Besuchsprogramms – spätestens nach dem Essen treffen sich die Männer im Wohnzimmer und die Frauen, auch die der Gäste, in der Küche – auf ein Minimum beschränkt werden, dass die Frauen Kopftücher tragen und auch, besonders bei den älteren Frauen in der Türkei, dass sie es bei der Begrüßung offenkundig vorziehen, wenn man ihnen nicht die Hand gibt. Wenn man die Grenzen kennt und achtet, hat man mit dieser Art der Geschlechtertrennung nie Probleme.
Habibs Haus mit unserem Wohnbereich hinter der offenen Tür und dem Bereich der Familie |
Ahmed, einer
der Männer, dessen Frau wir nicht zu Gesicht bekamen, erzählte mir die
anrührende Geschichte seiner Liebe zu dieser Frau und seiner Verheiratung mit
ihr. Vor etwa 20 Jahren, es war in politisch turbulenten Zeiten, beschloss
Ahmeds Mutter („Sie ist die stärkere in der Ehe meiner Eltern“, sagt Ahmed),
dass jetzt die Zeit für den damals 21jährige Ahmed zum Heiraten gekommen sei. Ahmed
selbst war wenig von diesem Gedanken überzeugt und hielt seine Mutter deshalb mit
Ausreden hin. Eines Tages kam er nach einem längeren Aufenthalt an einem
anderen Ort Hause und fand dort einen betreten vor sich blickenden Vater vor. „Deine
Mutter stirbt“, sagte er, „geh selbst in ihr Zimmer und sieh, was passiert ist.“
Und in der Tat – die Mutter lag stark abgemagert und entkräftet auf dem Bett, nur
noch ein Rest von der Person, die sie einmal gewesen war.
Was war
geschehen? Ahmed erfuhr es aus dem Mund der Mutter: sie war in einen
Hungerstreik getreten, mit dem Ziel, Ahmed zum Heiraten zu zwingen. Ohne eine andere Wahl
zu haben, versprach er ihr ohne zu Zögern, jetzt umgehend zu heiraten. Dabei
machte er ihr aber auch klar, dass das nicht so einfach sei. Wo sollte er ein
Mädchen finden? Das, sagte die Mutter, solle er ihr Problem sein lassen.
Und in der
Tat vergingen nur wenige Tage, bis Ahmed zu einem Termin bei einer Familie im
Ort beordert wurde, die eine heiratsfähige, Ahmed aber bislang unbekannte Tochter hatte. Die Mutter hatte
alles arrangiert. Es war ein Teil der Brautfamilie da, Eltern, einige ältere
Brüder, es waren Ahmeds Eltern da, ebenfalls durch große Brüder verstärkt, es
waren weitere Honoratioren des Dorfes da, der Schuldirektor und andere ältere
Leute, es war Ahmed da – nur die Braut fehlte.
Der
Schuldirektor ergriff das Wort. Nach den üblichen Formeln – bismillah rahim, im
Namen Gottes des Barmherzigen usw. – setzte er etwa so an, dass er die, wie er
sagte, allseits bekannte Vorzüge von Ahmeds ehrwürdiger Familie aufzählte und
ihre positive Rolle in der Gemeinschaft der kleinen Stadt beschrieb. Ein
weiterer Sprecher fand sodann lobende Worte auch für Ahmed selbst, der Apfel war
nicht weit vom Stamm gefallen, und Stamm und Apfel waren gut. Nun war ein
anderer an der Reihe, der es übernahm, die Familie der Braut zu würdigen und
dann wieder ein anderer, der für die Braut sprach.
Nachdem dies
geschehen war, blickte man sich an und nickte allerseits zustimmend und
überzeugt, dass nun einem Ehevertrag nichts mehr im Wege stand. Der wurde dann
auch vom Schuldirektor, der zu solchen Amtshandlungen bevollmächtigt war,
hervorgeholt, in einigen Punkten ergänzt und sodann von ihm, dem Schuldirektor,
einigen Zeugen und den Vätern unterschrieben.
Ahmed hatte
dem allen nur nervös und in der Hoffnung zugehört, dass bald alles zu Ende sei,
als angekündigt würde, dass nunmehr die Braut hereinkommen und den Gästen Kaffee
servieren würde. „Christian“, sagte Ahmed mir, „als sie hereinkam, war mir, als
ob ein Berg auf meinen Schultern lag. Ich konnte unmöglich zu ihr aufschauen!“
Er sah noch, dass sie ein blaues Kleid trug, alles andere verschwamm, aber als das
Blau sich dann auf ihn zu bewegte und aus dem Blau eine Tasse Kaffee herausgereicht
und in seine Hände gedrückt wurde, zitterten diese plötzlich so, dass er die
Tasse fallen ließ und den gesamten Inhalt über seine Hose schüttete.
Eigenartigerweise
wurde der Vorfall mit Heiterkeit und großem Beifall aufgenommen: das war ein
gutes Vorzeichen, sagten alle. Die Braut verschwand, man trank den Kaffee, man
verabschiedete sich.
Einige Wochen
später – Ahmed hatte weiterhin seine mittlerweile legal mit ihm verheiratete
Frau nicht gesehen – wurde ein Fest veranstaltet, auf dem die Braut weiter
unsichtbar blieb. Es waren verschiedene Mädchen da, aber da alle in Blau
erschienen waren, konnte Ahmed sein Frau nicht unter ihnen ausmachen. Der Abend
verging, man kehrte heim – ohne Ahmeds Frau.
Haus in einem Flüchtlingscamp |
Nach dieser
Geschichte war es mir dann nicht mehr schwer, mich mit dem Gedanken abzufinden,
dass es mir heute und morgen nicht besser gehen würde als Ahmed in seinen ersten Ehewochen: auch ich
bekam seine Frau nicht zu Gesicht.
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