Sonntag, 19. September 2010

Der kleine Korse




Die Fußgängerzone in Ajaccio ist mit Fahnenmasten geschmückt, an denen für das Museum Fesch geworben wird. Meist zeigen die Fahnen den jungen Kaiser Napoleon I., wie ihn der Maler François Gérard nach der Krönung in Notre Dame 1804 dargestellt hat. Napoleon war damals 35 Jahre alt.

Gérard hat die Jugend des Kaisers in keiner Weise verleugnet, er hat sie sogar hervorgehoben: ein noch unfertiges Gesicht mit eher weichen Zügen blickt uns an, und so sehr uns die Insignien seiner imperialen Macht – Krone, Hermelin, Zepter, Thron – beeindrucken, so unsicher hinterläßt uns das gesamte Bild in Bezug auf die Frage, was man von diesem Jüngling in späteren Zeiten erwarten darf.

Wer ist er? Er hat ein Gesicht, das in erstaunlicher Weise vielen Gesichtern von jungen Männern aus dem Mittelmeerraum ähnelt, die in Deutschland mit einem, wie wir heute sagen Migrationshintergrund leben. Er könnte mit seinen dunklen Augen und den etwas schweren Lidern ein Grieche sein, ein Spamier, auch ein Türke. Und er ist ja in der Tat ein Migrant gewesen, mit seiner italienisch-korsischen Herkunft, deutlich unterschieden von den eingeborenen, den gallischen Franzosen. Er sprach nicht einmal ihre Sprache korrekt, behielt zeitlebens einen italienischen Akzent.

Er hat eine große jugendliche Unbefangenheit. Und die ist auch heute noch vielen jungen Männern aus dem Mittelmeerraum zu eigen. Man weiß: er sieht Lösungen, wo das alte Europa noch in Problemen befangen ist, er riskiert etwas, wo die anderen ängstlich ihren alten Gewohnheiten folgen. Die schwere kaiserliche Kostümierung benötigt er eigentlich nicht. Er durchschaut sie als ein Spiel, in dem er selbst die Regeln vorgibt. Die Krone hat er sich selbst aufgesetzt, der Papst steht dabei und sieht mit saurem Magen, aber am Ende doch bewundernd zu.

Wir wissen, daß dieser ewig junge Mann immer wieder zu viel riskiert hat und am Ende das Spiel verliert. Aber wir leben bis heute von den Nebenwirkungen seiner Taten, von seinen Ideen, etwa was eine bessere Schulbildung, eine vernünftige öffentliche Verwaltung, eine neuzeitliche Fassung der gesetzlichen Verhältnisse untereinander betrifft.

Ob es auch in Zukunft junge Migrantenkinder gibt, die mit Napoleons jugendlichem Optimismus der alten Welt neuen Geist geben? Man wünschte es sich, aber denkt dabei: bitte ohne das militärische Drum und Dran, das doch immer wieder nur in Waterloo endet.



1 Kommentar:

Peter Oberschelp hat gesagt…

Rousseau hatte ein "Projet de constitution pour la Corse" entworfen und in diesem Zusammenhang auch geäußert, qu'un jour cette petite ile étonnera l'Europe, wenn er auch nicht wissen konnte, wie Sebald hinzufügt, in welch schreckenerregender Weise diese Prophezeihung sich binnen fünfzig Jahren erfüllen sollte. Also Vorsicht beim Blick in die Zukunft!