Mittwoch, 15. September 2010

Korsische Türme




Die Türme auf nördlichen Landzunge Korsikas, dem Cap Corse, sind sicherlich nicht als Wacht- und Kontrolltürme der Genuesen gebaut worden, von denen herunter man vorbeifahrende Schiffe beschießen und zur Abgabe von Zoll zwingen konnte. Dafür stehen sie oft zu weit von der Küste weg, etwa am Rand einer kleinen Ansiedlung, an einem Berghang weit vom Meer.

Sie erscheinen mir eher kleine Fluchtburgen zu sein, in Frühzeiten zum Schutz gegen die immer wieder hier auftauchenden Seeräuber, später als Rückzugspunkt in allerlei möglichen Fehden innerhalb des Landes. Die Herrschaft der Genuesen war lang, etwa 400 Jahre, aber nicht immer unangefochten. Leicht geriet man zwischen die Interessen ansässiger Adelsfamilien und genuesischer Gouverneure. Da war es gut, wenn man sich gelegentlich mitsamt Familie und Vorräten irgendwo in Sicherheit bringen konnte.

Ein einziger Turm macht allerdings eine Ausnahme: der Torra di Seneca, wie er korsisch heißt, hoch über der Paßstraße, die Santa Severa an der Ostküste mit Pino an der Westküste verbindet. Er steht in unwirtlicher Einsamkeit auf einen kahlem Felsen und ist ein Ort, von denen man auf Anhieb sagen kann, daß er für den großen Denker und Staatsmann, der hier acht Jahre leben mußte, eine angemessene Exilstätte gewesen sein könnte. Ich sagte schon, daß seine Anwesenheit in diesem Turm nur eine Legende ist, aber es ist eine schöne.

Als wir die Paßhöhe erreicht hatten, kam ein Gewitter auf, und Blitze umzuckten den erhabenen Felsen mit dem Turm über uns. Unten überschattete ein kleiner Pinienhain mit elegant geformten alten Bäumen wie sie ganz ähnlich auch an der Via Appia stehen könnten, einen Rastplatz, eine uralte Kirche stand daneben, die ebenfalls aus Rom übernommen sein könnte – ein perfekter Platz, um hoch darüber, oben zwischen Bergen und Himmel stoische Philosophie zu schreiben.

Das hat Seneca in dieser Zeit auch getan, eine Kirche hat er allerdings nicht gesehen, denn zu Beginn seiner Verbannung, im Jahr 41, war die christliche Religion gerade einmal wenige Jahre alt und noch nicht weit über die Grenzen Judäas verbreitet. Legenden wollen wissen, daß Seneca, der wie Jesus um das Jahr Null herum geboren wurde, später in Rom den Paulus getroffen hat und von ihm getauft worden ist. Aber es ist eher zu vermuten, daß Seneca im Gegenteil an der Ablehnung des Christentums durch die römische Staatsmacht mitgewirkt und geistig den Weg für den großen militärischen Schlag vorbereitet hat, der um das Jahr 70 gegen Jerusalem geführt wurde. Damals wurde der Tempel zerstört, und einiges spricht dafür, daß man damit dem Judentum und dem Christentum gemeinsam den Todesstoß versetzen wollte.

Gerne wüßte man sehr viel mehr über diese Zeit, in der nicht nur Seneca im Turm, sondern auch Paulus in einem römischen Gefängnis seine Gedanken niederschrieb. Die beiden hatten eine gemeinsame Sprache, aber was geschehen wäre, wenn sie sich tatsächlich getroffen hätten, ist schwer zu sagen.

Wir sind mittlerweile nach Corte ins Landesinnere weitergefahren und wollen heute unser erste Wanderung oberhalb der Baumgrenze beginnen - am Fuß des Monte d'Oro (2.234 m), um den sich der berühmte Fernwanderweg GR 20 windet.



1 Kommentar:

Peter Oberschelp hat gesagt…

...sicherlich nicht als Wacht- und Kontrolltürme der Genuesen gebaut:

Auch mein aufkeimender Verdacht, das Korsische könnte ein Ableger des Ligurischen - davon das Genuesische eine Spielart - sein, ist falsch. Ligurisch gehört zur norditalienischen (oder: padanischen) Dialektgruppe
Die nördlichen Dialekte Korsikas dagegen sind mit dem toskanischen Italienisch, die südlichen mit den nordsardischen Dialekten Sassaresisch und Galluresisch verwandt.