Montag, 13. September 2010

Rogliano / Korsika




Die früher einmal hier auf der Nordspitze der Insel herrschenden Genueser haben das Land mit einem Netz von kleinen runden Wachttürmen überzogen, die wie die Figuren eines Schachspiels in der Gegend herumstehen. Einer der Türme, den wir heute noch erwandern wollen, soll der Legende nach aus Römerzeiten stammen und dem Philosophen Seneca zwischen 41 und 49 n.Chr. während der Zeit seiner Verbannung durch den Kaiser Claudius als Wohnsitz gedient haben. Seneca wurde am Ende dieser Zeit wieder nach Rom beordert und zum Erzieher eines Stiefsohns des Claudius berufen – Nero. Dessen erste, von Seneca begleiteten und später von den Historikern wohlwollend beurteilten Regierungsjahre wurden also gewissermaßen auf Korsika vorbereitet. Die zunehmende Verfinsterung Neros änderte später alles und kostete bekanntlich ungezählten Menschen das Leben, auch seinem Lehrer Seneca.

Das alte Städtchen Rogliano wirkt teilweise verlassen, die Bewohner arbeiten möglicherweise in Lyon oder Mailand und nutzen ihre verschachtelt aneinander gebauten Häuser, die überwiegend nur über schmale Pfade und Treppen zu erreichen sind, wohl nur noch als Feriendomizile.

Über dem Ort steht die große Kirche zum heiligen Lamm, Sant Agnellu. Sie ist wie viele Kirchen im Mittelmeerraum bis auf die große Fassade äußerlich schmucklos. Die Fassade dagegen spricht von einer uneingeschränkten früheren Macht der Kirche. Heute sind die Zeichen des Zerfalls nicht zu übersehen. Aus dem Gesims über dem Portal der Kirche wachsen kleine Bäume, die niemand beseitigt.

Ähnlich sehen auch die Kirchen in den lateinamerikanischen Filmen aus. Ein wenig träumend auf dem großen Vorplatz vor Sant Agnellu stehend würde es mich nicht wundern, wenn gleich eine Prozession mit Indiojungen aus dem Fim "Missiones" erschiene und glockenhell „Jesu, meines Herzens Freude“ sänge.

In der Realität hörten wir am Sonntag durch die offenen Türen die Lieder der Gemeinde. Sie waren jugendlich und klangen ähnlich, wie sie auch "bei uns" (in meiner modern eingestellten evangelischen Freikirche) gesungen werden. Die Kirche wendet sich hinter imperialen Fassaden erneut dem Volk zu.



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