Montag, 1. Oktober 2012

Melancholie, französisch und türkisch


Julien Viaud
Nirgendwo sonst konnte der französische Marineoffizier Julien Viaud (1850 – 1923) seinen schwermütigen Gedanken vom Verfall und vom Ende der Dinge besser nachhängen als auf einem Hügel vor der Stadtmauer des alten Istanbul. Er war aus Frankreich mit der dunklen Melancholie des fin de siècle infiziert mit dem Schiff nach Istanbul gekommen und fand im Reich der Sultane, deren Herrschaft nach vierhundertjähriger Dauer für alle spürbar ihrem traurigen Ende entgegen ging, einen Menschenschlag, der offenbar in ähnlich gedämpften Farben empfand wie er. Viele Jahre später hat Orhan Pamuk die spezielle tristesse Istanbuls beschrieben, die hier hüzün heißt und für Pamuk auch heute noch einen Teil des Charakters der Stadt am Bosporus ausmacht.


Viauds erster Roman Aziyadé (1879) beschreibt die tragische Liebe eines in Istanbul lebenden französischen Marineoffiziers zu einer schönen Tscherkessin, die zum Harem eines alten reichen Türken gehört. Viaud verarbeitete darin autobiografisches Material, besonders im Kapitel Eyoub à deux, Eyüp zu zweit. Im Stadtteil Eyüp, wo Viaud mehrere Jahre lebte, befindet sich der Hügel vor der Stadtmauer und bietet einen wunderbaren Ausblick auf das alte Istanbul und auf seinen moderneren Teil Beyoğlu. Beide Stadtviertel werden getrennt durch die hier in Eyüp noch schmale, aber zum Meer hin immer breiter werdende Flussmündung des Goldenen Horn.

Viaud schrieb unter einem Künstlernamen, den er sich zuvor in der Südsee erworben hatte. Er nannte sich Loti nach einer tahitischen Blume, und fügte den Vornamen Pierre hinzu. Er hat lebenslang von seinen vielen Reisen Material mitgebracht und zu erfolgreichen Romanen verarbeitet. Marcel Proust hat ihn verehrt, die Académie française hat ihn durch eine Mitgliedschaft intellektuell geadelt.

Piyerloti 1971
Als ich 48 Jahre nach Lotis Tod erstmals den Hügel mit seinem kleinen Teehaus, das Piyerloti hieß, besuchte, war mir der Ort noch als Geheimtipp genannt worden. Die Aussicht auf Istanbul war damals durch hässliche Industrie- und Hafenanlagen und durch den Fluss, der üblen Unrat mit sich führte und unangenehm roch, in grober Weise gestört. Für Melancholie, die bei allem Verfall doch ein gewisses Maß an verbliebener Schönheit voraussetzt, war hier kein Platz.
Weitere 38 Jahre später fand ich Fluss und Hügel vollkommen verändert vor. Eine rigorose Stadtplanung hatte die Ufer weitestgehend von Bauten befreit, und eine noch strengere Reinhaltung des Wassers ließ den Fluss so klar und rein fließen, dass man an seinem Verlauf bis zur Mündung Heerschaaren von Anglern fand und noch heute findet.
Das Panorama von Istanbul wird jetzt ein wenig von einer neuen Brücke verdeckt, über die der Autobahnring um Istanbul verläuft. Er führt weiter nördlich über eine weitere Brücke nach Asien hinüber. Das Teehaus ist erweitert und wird über eine hochmoderne Kabinenseilbahn täglich von großen Besucherströmen erreicht.

Pierre Loti 2007
 
Ob man hier noch einmal melancholische Momente erleben kann? Ich werde ab kommendem Freitag für ein paar Tage mit einer türkisch-deutschen Reisegesellschaft in Istanbul sein und das neue Hotel Pierre Loti auf dem Hügel über dem Fluss als Quartier haben. Es ist ein moderner Gebäudekomplex, den man im Stil der Istanbuler Häuser aus Pierre Lotis Zeiten in Holz errichtet hat. Ich freue mich auf die Reise.

1 Kommentar:

Nureddin Öztas hat gesagt…

Diese Melancholie ist immer noch über dem ganzen Land zu spüren. Das leckere, würzige türkische Essen zum Beispiel lässt schon mal melancholisch werden. Man sieht es in den türkischen Gesichtern. Man sieht es auch sogar bei unseren Ausländern wie Pierre Loti oder dem scheidenden brasilianischen Fußballstar Alex de Souza, der 9 erfolgreiche Jahre bei Fenerbahce Istanbul verbracht hat und die Türkei bald verlassen wird. Man hört es aus den Minaretten durch die Muezzine rufen, die trotz hektischen Alltag zum demütigen Gebet erinnern. Man hört es in türkischen Liedern und nicht nur in alten Klängen des von mir hoch geschätzten, letzte Woche verstorbenen, Neset Ertas aus Kirsehir:
http://www.youtube.com/watch?v=uiW9dbaA46c
Sondern sogar in modernen Pop Songs.Ich frage mich manchmal, ob es eine zweite Nation, außer den Türken in der Welt gibt, der zu traurigen Strophen, rhythmische Tanz Beats erfindet. Hier ein Beispiel von Tarkan, dem türkischen Michael Jackson: http://www.youtube.com/watch?v=bqW7PATq0dE
Der Titel ist " Ask gitti bizden= die Liebe hat sich von uns entfernt" Ein gesundes Maß an "Hüzün"ist allerdings auch meines Erachtens gut, richtig und wichtig. Sogar unser großer Denker/Philosoph und Vorbild Gülen spricht von Hüzün und nennt es sogar als heilig. Für ihn ist Hüzün wichtig, sein Leben gottesehrfürchtig in Demut zu verbringen. Jenseits ist der richtige Ort für Freude, eine Kostprobe ist davon im Diesseits gestattet, aber der Diesseits ist der Ort der demütigen Hingabe und ist mit einem gesunden Maß an Trauer verbunden. Ich freue mich auf Istanbul und Türkei!