Samstag, 7. September 2013

Arbeiten in der Türkei


Adana
Wir sind zurück in Remscheid. Ich möchte gerne noch ein paar Eindrücke von der Reise weitergeben, heute etwas zum Arbeitsleben der Menschen.
Das Land hat in den letzten Jahren erkennbar riesige Fortschritte gemacht. Die Autobahnen und auch die Straßen über Land sind neu und von guter Qualität, überall sind neue, meist etwa acht- bis zehngeschossige Wohnhäuser entstanden und entstehen weiterhin, in den Geschäften werden Waren mit internationalem Niveau angeboten. Das Pro-Kopf-Einkommen liegt allerdings noch bei nur etwa der Hälfte (52%) des europäischen Durchschnitts, das ist etwa die Klasse von Rumänien und Bulgarien.
Man ahnt einen der Gründe, wenn man die vielen halb- oder teilbeschäftigten Menschen hier sieht. Ich meine nicht die Männer in den Teehäusern, die sind alt oder machen eine der vielen Pause, die zum Leben im heißen Mittelmeerraum gehören. Ich meine Leute, wie den jungen, modisch gekleideten und frisierten Mann, der am vergangenen Dienstag im Fischrestaurant „Denizli Kiz“ lange Zeit unbewegt im Hintergrund stand und die einzige Aufgabe hatte, die Tische der Gäste abzuräumen. Seine Kollegen, die "echten" Kellner, hatten etwas mehr zu tun. Sie strahlten eine überlegene Ruhe aus sahen außerdem in ihren weißen Hemden und schwarzen Hosen gerade so aus, als ob sie in Deutschland in jeder Mercedes-Niederlassung sogleich als Topverkäufer eingesetzt werden könnten. Der Chef des eigentlich eher einfachen Lokals (drei Gänge mit Aperitif, Wein und Nachtisch für weniger als € 20,- pro Person) hatte das vornehme Gesicht eines italienischen Anwaltes und war auf angenehme Weise allgegenwärtig. Wirklich zu tun hatte aber wohl nur das Küchenpersonal, so mein Eindruck auch wenn jeder hier qualifiziert und motiviert wirkte.
Man weiß, dass viele Kinder der nach Deutschland ausgewanderten Türken ihre angeborene Intelligenz bewiesen haben und – immer wieder werden uns diese Geschichten von zurückgekehrten oder auf Urlaub weilenden deutschen Türken erzählt – in den erstaunlichsten Berufen erfolgreich. Ärgerlich ist verglichen damit natürlich die Vielzahl der Kinder im Lande, die statt zur Schule zu gehen, ihren Vätern im Laden helfen müssen. Ihre Bildung erscheint verbaut.
Ladengschäfte in Çamlıyayla, Taurusgebirge
Was tun ihre Väter? Sie halten in einer der vielen kleinen Läden Wache und warten auf Kunden, mit denen sie dann umständlich ihre Geschäfte besprechen und womöglich noch lange feilschen, bis der endgültige Preis feststeht. Das erscheint mir alles vertane Zeit zu sein – und die Leute wissen es auch und sehen am Ortsrand die großen Märkte des Marktführers  BIM (Birlesik Magazalar, nach dem ALDI-Prinzip arbeitend) und anderer Ketten wachsen. 10.000 solcher und ähnlicher modernen Geschäfte soll es mittlerweile geben. Den kleinen Läden droht Unheil.
Zu meinen Überlegungen passt, dass gerade in diesen Tagen das Schicksal des großen alten Bazars in Istanbul in die Schlagzeilen gerückt ist. Er ist baufällig und muss grundlegend saniert werden. Ich sage voraus, dass er danach nie wieder so sein wird wie früher - die alte Art zu handeln und auf Kunden zu lauern hat sich überlebt.
Ein großes Problem besonders für die Leute in der boomenden Bauindustrie ist die geringe Arbeitssicherheit. Ich habe tausende von schönen neuen Häusern gesehen, entweder im Bau, oder teilfertig, oder kurz vor dem Einzug. Ich kann mich nicht erinnern je ein einziges Gerüst an ihnen gesehen zu haben - außer ein paar Fahrkörben, mit denen man an fertigen Bauten die sonst nicht zugänglichen Stellen an der Fassade bearbeitet. Überall bewegen sich die Bauarbeiter frei an Abgrund, ich kann mit meiner quälenden Höhenangst gar nicht hinsehen.
Wenn die Männer die Betonschalungen der Etagendecken entfernen müssen, hantieren sie mit Hebelstangen, die sie mit aller Kraft vom Gebäude wegbewegen, um das Holz entfernt zu bekommen. Wenden sie etwas zu viel Kraft an, landen sie mitsamt der Schalung im Abgrund.
Uğur, der aus Deutschland zurückgekehrte Schreinermeister, sieht das Problem ebenfalls. Er verhandelt derzeit mit einem Hotelier über die Holzverkleidung einer hohen neuen Hotelhalle. Der Hotelier hat aus eigenen Mitteln ein Gerüst hingestellt, aber nur ein sehr wackliges, und Uğur weigert sich, seine Leute darauf arbeiten zu lassen. Der Hotelier hat jetzt den doppelten Preis angeboten, wenn Uğur das Gerüst akzeptiert, aber der will bei seinen deutschen Sicherheitsstandards bleiben.
Natürlich ist ein Bauboom ganz ohne die Notwendigkeit, Gerüste zu stellen, schneller, weil preiswerter zu bewirken als einer mit deutschen DIN-Sicherheitsnormen. Aber wenn man einem Menschenleben einen wirklichen Wert gibt, dann müsste der Bauboom zugunsten von Gerüsten und Unfallversicherungen ein wenig gebremst werden. Das wird auch geschehen, sagt Uğur, eine Serie von tödlichen Arbeitsunfällen in einer Werft am Schwarzen Meer hat das Thema Arbeitssicherheit jüngst in die Schlagzeilen gebracht. Man weiß um die Probleme, "Erdogan weiß alles"' davon ist Uğur überzeugt.
Aber Erdogan weiß es für meinen Geschmack schon viel zu lange. Er sieht die hoch am Himmel arbeitenden Betonbauer sicherlich jeden Tag aus dem Autofenster. Er wird damit rechnen, dass die Welt den Bauboom sieht, die Leichen sieht man nicht.

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