Adana |
Wir sind
zurück in Remscheid. Ich möchte gerne noch ein paar Eindrücke von der Reise weitergeben,
heute etwas zum Arbeitsleben der Menschen.
Das Land hat
in den letzten Jahren erkennbar riesige Fortschritte gemacht. Die Autobahnen
und auch die Straßen über Land sind neu und von guter Qualität, überall sind neue,
meist etwa acht- bis zehngeschossige Wohnhäuser entstanden und entstehen
weiterhin, in den Geschäften werden Waren mit internationalem Niveau angeboten.
Das Pro-Kopf-Einkommen liegt allerdings noch bei nur etwa der Hälfte (52%) des
europäischen Durchschnitts, das ist etwa die Klasse von Rumänien und Bulgarien.
Man ahnt einen
der Gründe, wenn man die vielen halb- oder teilbeschäftigten Menschen hier
sieht. Ich meine nicht die Männer in den Teehäusern, die sind alt oder machen
eine der vielen Pause, die zum Leben im heißen Mittelmeerraum gehören. Ich
meine Leute, wie den jungen, modisch gekleideten und frisierten Mann, der am
vergangenen Dienstag im Fischrestaurant „Denizli Kiz“ lange Zeit unbewegt im
Hintergrund stand und die einzige Aufgabe hatte, die Tische der Gäste
abzuräumen. Seine Kollegen, die "echten" Kellner, hatten etwas mehr
zu tun. Sie strahlten eine überlegene Ruhe aus sahen außerdem in ihren weißen
Hemden und schwarzen Hosen gerade so aus, als ob sie in Deutschland in jeder
Mercedes-Niederlassung sogleich als Topverkäufer eingesetzt werden könnten. Der
Chef des eigentlich eher einfachen Lokals (drei Gänge mit Aperitif, Wein und
Nachtisch für weniger als € 20,- pro Person) hatte das vornehme Gesicht eines
italienischen Anwaltes und war auf angenehme Weise allgegenwärtig. Wirklich zu
tun hatte aber wohl nur das Küchenpersonal, so mein Eindruck auch wenn jeder
hier qualifiziert und motiviert wirkte.
Man weiß,
dass viele Kinder der nach Deutschland ausgewanderten Türken ihre angeborene
Intelligenz bewiesen haben und – immer wieder werden uns diese Geschichten von
zurückgekehrten oder auf Urlaub weilenden deutschen Türken erzählt – in den erstaunlichsten
Berufen erfolgreich. Ärgerlich ist verglichen damit natürlich die Vielzahl der
Kinder im Lande, die statt zur Schule zu gehen, ihren Vätern im Laden helfen
müssen. Ihre Bildung erscheint verbaut.
Ladengschäfte in Çamlıyayla, Taurusgebirge |
Zu meinen
Überlegungen passt, dass gerade in diesen Tagen das Schicksal des großen alten
Bazars in Istanbul in die Schlagzeilen gerückt ist. Er ist baufällig und muss
grundlegend saniert werden. Ich sage voraus, dass er danach nie wieder so sein
wird wie früher - die alte Art zu handeln und auf Kunden zu lauern hat sich
überlebt.
Ein großes
Problem besonders für die Leute in der boomenden Bauindustrie ist die geringe
Arbeitssicherheit. Ich habe tausende von schönen neuen Häusern gesehen, entweder
im Bau, oder teilfertig, oder kurz vor dem Einzug. Ich kann mich nicht erinnern
je ein einziges Gerüst an ihnen gesehen zu haben - außer ein paar Fahrkörben,
mit denen man an fertigen Bauten die sonst nicht zugänglichen Stellen an der
Fassade bearbeitet. Überall bewegen sich die Bauarbeiter frei an Abgrund, ich
kann mit meiner quälenden Höhenangst gar nicht hinsehen.
Wenn die
Männer die Betonschalungen der Etagendecken entfernen müssen, hantieren sie mit
Hebelstangen, die sie mit aller Kraft vom Gebäude wegbewegen, um das Holz
entfernt zu bekommen. Wenden sie etwas zu viel Kraft an, landen sie mitsamt der
Schalung im Abgrund.
Uğur, der
aus Deutschland zurückgekehrte Schreinermeister, sieht das Problem ebenfalls.
Er verhandelt derzeit mit einem Hotelier über die Holzverkleidung einer hohen neuen
Hotelhalle. Der Hotelier hat aus eigenen Mitteln ein Gerüst hingestellt, aber
nur ein sehr wackliges, und Uğur weigert sich, seine Leute darauf arbeiten zu lassen.
Der Hotelier hat jetzt den doppelten Preis angeboten, wenn Uğur das Gerüst
akzeptiert, aber der will bei seinen deutschen Sicherheitsstandards bleiben.
Natürlich
ist ein Bauboom ganz ohne die Notwendigkeit, Gerüste zu stellen, schneller, weil
preiswerter zu bewirken als einer mit deutschen DIN-Sicherheitsnormen. Aber
wenn man einem Menschenleben einen wirklichen Wert gibt, dann müsste der Bauboom
zugunsten von Gerüsten und Unfallversicherungen ein wenig gebremst werden. Das
wird auch geschehen, sagt Uğur, eine Serie von tödlichen Arbeitsunfällen in
einer Werft am Schwarzen Meer hat das Thema Arbeitssicherheit jüngst in die
Schlagzeilen gebracht. Man weiß um die Probleme, "Erdogan weiß
alles"' davon ist Uğur überzeugt.
Aber Erdogan weiß es für meinen
Geschmack schon viel zu lange. Er sieht die hoch am Himmel arbeitenden
Betonbauer sicherlich jeden Tag aus dem Autofenster. Er wird damit rechnen,
dass die Welt den Bauboom sieht, die Leichen sieht man nicht.
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