Mittwoch, 11. September 2013

Heimkehrer

Kırşehir ist eine Auswandererstadt. Bei unserem Bummel durch die Fußgängerzone werden wir innerhalb von einer Stunde von fünf verschiedenen Leuten angesprochen und gefragt, ob wir aus Deutschland kämen und aus welcher Stadt wir seien. Es sind junge Leute dabei, die uns in akzentfreiem Deutsch erzählen, dass sie in Deutschland eine akademische Ausbildung hinter sich gebracht haben und jetzt die Großeltern besuchen. Es sind Leute mittleren Alters dabei, die ebenfalls in perfektem, manchmal dialektgefärbtem Hessisch oder Schwäbisch erzählen, dass sie auf Heimaturlaub sind, und es sind die alten Rentner, die in den Parks sitzen und lachend bemerken, dass sie das wenige Deutsch, das sie vor Jahren gelernt haben, mittlerweile schon fast wieder vergessen haben.

Besonders auf der Hochzeit ist letzterer Typus reichlich vertreten, und es gibt immer ein großes Hallo, wenn jemand in der Nähe meiner Heimatstadt Remscheid gearbeitet hat oder das Bergische Land oder das Rheinland zumindest aus der Nähe kennt.

Etwa 100 km weiter haben wir auf unserer nächsten Station in Ürgüp bei Özcan* und Fadime (siehe Foto) ein bisschen länger Gelegenheit, über Erinnerungen an Deutschland zu reden. Die beiden sind die Eltern eines Facebook-Freundes, der kurzerhand über Facebook den Besuch organisiert hat, nachdem er dort gelesen hatte, dass wir ganz in der Nähe seiner Eltern im Hotel sind. Özcan und Fadime haben von dem in Deutschland verdienten Geld ein schönes Haus am Rande ihrer Stadt gebaut. Wie die meisten türkischen Häuser wirkt es geräumiger und luftiger als vergleichbare Bauten in Deutschland. Man sagt uns im internationalen Vergleich ja allgemein nach, dass wir in Deutschland mehr Geld in die Möbel stecken als in die Wohnungen. Vorrang hat bei uns die Schrankwand, auch wenn das Wohnzimmer nur 10 qm hat. Bei Özcan und Fadime geht es alles etwas geräumiger zu, in der Sommerhitze ist das auch notwendig.

Ihre vier Kinder haben alle qualifizierte, teilweise akademische Berufe ergriffen, eine Tochter und zwei Söhne wohnen in Deutschland, ein Sohn im 400 km entfernten Antalya an der Mittelmeerküste.

Ihre Wohnung hat eine schöne, über die gesamte Längsseite des Hauses verlaufende und mit Wein bekränzte Loggia zur Straße hin. Während wir dort schattig sitzen, einen kühlen Luftzug in der ansonsten noch sehr heißen Stadt genießen, Tee trinken und Früchte essen, kommen wir nicht nur mit Özcan und Fadime, sondern auch mit deren Nachbarn ins Gespräch. Sie kommen die Straße herunter, grüßen, bleiben stehen und fragen nach dem Woher und Wohin. Eine noch recht junge Frau erzählt, dass ihre Tochter in Deutschland promoviert hat (in Geschichte) und mit einem deutschen Anwalt verheiratet ist. Ein anderer Nachbar ist als Kind mit seinen Eltern nach Holland ausgewandert und hat mittlerweile ebenfalls ein Haus in der Straße. Alle haben irgendetwas mit dem europäischen Ausland zu tun. Während wir sitzen und reden kommt ein Nachbarskind und bringt ein kleines Geschenk, einige Stücke Kuchen. Ein anderes wird von den Eltern mit einem Teller Weintrauben geschickt, ein drittes reicht warme, gefüllte Weinblätter, ein Nationalgericht, über das Geländer der Loggia. Wir sind willkommen hier.

Es ist eine fröhliche Stimmung in dieser ruhigen Vorstadtstraße. Özcan schüttelt lachend den Kopf, wenn ich ihn frage, ob er die Entscheidung für Deutschland noch einmal treffen würde, wenn er wieder jung wäre. Das ist eine dumme Frage! Natürlich würde er wieder gehen. Würde er es auch tun, wenn er vorher wüsste, dass der Preis eine über hunderte, ja tausende Kilometer verstreute Familie ist? Ja, sagt Özcan, auch dann. Er und seine Frau haben aus der Not der großen Entfernungen eine Tugend gemacht und verbringen den Winter regelmäßig in einer kleinen Wohnung in Dortmund, die sie zu diesem Zweck das ganze Jahr über angemietet haben. So sehen sie die in Deutschland lebenden Kinder und Enkel regelmäßig.

Warum fahren sie gerade im Winter dorthin? Die Sommerhitze ist doch in Deutschland viel besser zu ertragen! Ich komme im Verlauf der Reise nicht ganz dahinter, warum die meisten heimgekehrten Türken es vorziehen, Deutschland im Winter zu besuchen. Offenbar hält es der überwiegende Teil so. Möglicherweise spielt der in Zentralanatolien recht schneereiche und kalte Winter für diese Entscheidung eine Rolle. Dass in Deutschland die Kinder und Enkelkinder immer tiefere Wurzeln geschlagen haben und deutsche Staatsbürger geworden sind, findet Özcan in Ordnung. Sie haben es gelernt, sich in zwei unterschiedlichen Kulturen zurechtzufinden. Das ist ein Vorteil.

Von der jüngeren Generation weiß ich, dass dieser Vorteil manchmal einen unangenehmen Nebeneffekt hat. Man ist in Deutschland der Türke und in der Türkei der „Deutschling“, der Almanci. „Sie erkennen uns an allem, sogar am unterschiedlichen Gang“, sagt mir ein junger deutscher Türke über seine Landsleute in der Türkei. Und tatsächlich ist Mehmed, der Düsseldorfer Bruder von Aslan, dem Restaurantbesitzer, dem er in den Ferien ein wenig als Aushilfskellner unterstützt, von seiner ganzen Körpersprache her so klar als deutscher Musterarbeiter zu erkennen, dass die anderen Kellner mit ihren feinen kleinen Schritten neben ihm schon fast filigran und ein wenig fernöstlich wirken. (Die einheimischen Gäste übergehen allerdings bei ihren Bestellungen den eifrigen Mehmed mit seinem "Wo-fehlt-hier-noch-Material?"-Blick meistens und lassen sich ihren Fisch lieber von Ergün, dem eleganten Stamm-Oberkellner servieren,)

Özcan blickt auf ein gelungenes Leben zurück. Die Gesundheit seiner Frau macht ihm ein wenig Sorgen. Beide sind allerdings auch schon ein ganzes Stück jenseits der 70. Was wird er tun, wenn einer der beiden pflegebedürftig wird? Özcan, der mir zuvor ein wenig von seinem Glauben und seinem Engagement in einem muslimischen Sozialwerk erzählt hat, zuckt die Achseln. Er weiß es nicht. Aber Gott wird es wissen! Ich denke mir, dass er verschiedener Optionen hat, darunter auch die Inanspruchnahme der Pflegeversicherung in seiner Dortmunder Wohnung.
In jedem Fall gilt für ihn: es war richtig, seine Heimat zu verlassen und sein Geld im Stahlwerk von Hoesch in Dortmund zu verdienen. Und es war richtig, rechtzeitig wieder in die Heimat zurückzukehren. Allah, an den er fest glaubt, hat über seinem Leben Barmherzigkeit walten lassen, das steht fest.

* alle Namen in diesem Bericht geändert

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