Nachtrag 1: Enthusiasten und Hysteriker
Nachdem ich meine Rede zum Geburtstag der Schwester beendet
hatte, saß ich noch mit zwei alten Bekannten zusammen und habe mit ihnen über
Enthusiasmus gesprochen. Ich habe dabei zwei neue Dinge gelernt.
Zum ersten: der erste Bekannte sagte mir, dass Sigmund Freud
ähnliche Phänomene wie den Enthusiasmus als „hysterische Reaktion“ beschrieben habe.
Als solche wären sie natürlich von Beginn an krankhaft und müssten ärztlich
behandelt werden.
Ich habe mich über diesen Kommentar ein wenig geärgert. Mir
ist im späteren Nachdenken darüber klar
geworden, was mir an Enthusiasmus
gefällt und was mir an hysterische
Reaktion missfällt. Beides ist jeweils die Bewertung eines menschlichen
Verhaltens, das sich an der Grenze der Normalität oder bereits jenseits davon bewegt.
An Enthusiasmus gefällt mir, dass Kay
Jamison ihn zunächst als etwas Natürliches und sogar Sympathisches ansieht, und
dass er erst dann eine Gefahr bedeutet, wenn er sich übersteigert und noch
später, in einem Akt der Selbsterkenntnis, erschrickt und in das genaue
Gegenteil, die finstere Depression, umschlägt. Jamison hat beides erlebt, den
Enthusiasmus und die Depression, und die Menschen lesen ihre Schriften offenbar
deshalb gerne, weil sie aus diesen besonderen Erfahrungen heraus authentisch
sind.
Dagegen klingt
hysterische
Reaktion deutlich herabsetzend. Es bedeutet immer eine Einstufung als
Krankheit. In der Folge haben die Schüler Siegmund Freud es ja auch gut
verstanden, um die von ihnen diagnostizieren Krankheiten herum ein
Versorgungssystem aufzubauen, das nur von teuren Ärzten bedient werden kann. So
wurde Psychologie zu einer Form des kostenpflichtigen Austausches von Lebensrat.
Sigmund Freud hat einmal gesagt, dass seine Psychologie eine
Kränkung der Menschheit ist, zusammen mit der kosmologischen Kränkung des
Kopernikus (die Erde ist nicht der Mittelpunkt des Weltalls) und der
biologischen Kränkung Darwins (der Mensch stammt vom Tier ab).
Nach meinem Eindruck sind Psychologen wie Jamison, die statt
„hysterischer Reaktion“ nur „Enthusiasmus“ sagen, auf dem Weg, diese Kränkung
ein wenig zu mildern.
Ein zweiter Kommentar in dem Gespräch nach der Rede war,
dass es in den Reihen der Christen bedauerlicherweise bis heute nicht erlaubt
ist, über starke Gemütsschwankungen zu reden. Depressivität wird verdrängt,
sagte mir mein zweiter Gesprächspartner. Auch das hat mich letztlich geärgert,
weil ich ein Bild vom Zusammenleben der Menschen habe, in dem der eine dem
anderen seine Sorgen und Nöte sagen darf. Voraussetzung ist ein gewisses
Vertrauen.
Zwar gibt es die Scheu, mit Störungen im Haushalt der Seele
nach außen zu treten. Diese Scheu ist natürlich, sie sollte aber nicht durch
gesellschaftliche Konventionen verstärkt werden, die eine ehrliche Rede darüber
verbieten. Nach meinem Eindruck ist das in den vielen christlichen Gruppen aber
auch gar nicht der Fall.
Ich stelle mir eine christlich geprägte Gesellschaft vor, in
der es eine breite Akzeptanz von seelischen Extremlagen gibt, sowohl in
Richtung übersteigertem Enthusiasmus als auch in Richtung übersteigerter
Melancholie. Und es sollte in dieser Gesellschaft – anders als bei den Zirkeln
um Sigmund Freud – auch eine breite Palette von Hausmitteln bekannt
sein, mit denen der eine Mensch den anderen beratend behandeln darf, ohne dass
man gleich zu einem teuren Doktor laufen muss.
Ich erinnere mich an eine Tagebuchnotiz des verstorbenen
Journalisten Johannes Groß, der die Überschrift in einer Zeitung 30 % der
Studenten benötigen eine psychologische Behandlung mit den Worten kommentierte:
so einen Beruf möchte er auch haben, der sich seine Kundschaft selbst
erschaffen kann.
Nachtrag 2: Im Wechselbad der Gefühle, eine Deutung des
Paulus
Einige Tage nach Esthers Geburtstag las ich in einem
Pauluskommentar von Norbert Baumert eine enthusiastische Äußerung des angeblich so leibfeindlichen und von daher freudlosen Apostels Paulus. Baumert interpretiert dort einen Abschnitt aus dem ersten Korintherbrief (Kapitel 6, 12 – 20)
und gibt sich dabei sehr viel Mühe, den von verschiedenen Auslegern
unterschiedlich bewerteten Abschnitt in Vers 14 zu klären, in dem Paulus schreibt
Gott aber hat den
Herrn auferweckt und wird auch uns auferwecken
Wann ist der Zeitpunkt, an dem Gott „uns auferwecken wird“? Baumert
argumentiert nach verschiedenen Seiten hin und kommt am Ende zu dem Schluss,
dass diese Auferweckung ein präsentischer Vorgang ist, Gott erweckt uns j
e t z t und lässt uns j e t z t teilhaben an der Kraft des
Auferstehungsleibes. Von daher ist es für uns abwegig (so fährt der Abschnitt
fort), wenn wir diesen Leib eins werden lassen mit dem einer Prostituierten.
Darauf will Paulus am Ende des Abschnittes als praktische Mahnung an die
Korinther hinaus.
Von einer anderen Stelle im zweiten Korintherbrief her (Kapitel
4, 11)
Denn ständig werden
wir, die Lebenden, dem Tod überliefert um Jesu willen, damit auch das Leben
Jesu an unserem sterblichen Fleisch offenbar werde.
übernimmt Baumert dann die Anschauung, dass unser Leben ein
beständiger Wechsel von Sterben und Auferstehen ist, ebenfalls im Hier und
Heute. Wir sterben in unseren Sorgen und Nöten und in unseren Bedrängnissen, wie es im
Johannesevangelium heißt (Kapitel 16, 33, Luthertext)
In der Welt habt ihr
Angst.
Wir erliegen dieser Bedrängnis-Angst, aber wir stehen immer
wieder auf, weil wir - so interpretiert Baumert die Korinther-Stelle - an den Auferstehungsleib Christi angeschlossen sind.
Diese Deutung gefiel mir und war mir eine Antwort auf meine morgendlichen
Bedrängnisse bezüglich der immer wiederkehrenden sorgenvollen und manchmal
dunklen Gedanken vor dem Aufstehen. Das wäre also der Teil von mir, der immer
wieder stirbt! Aber wenn ich dann morgens unter der Dusche stehe und mich
anfange meines Lebens zu freuen, dann dusche ich also meinen Auferstehungsleib!
Ich sehe, wie am Ende das alles, was ich schreibe, von
meinem gegenwärtigen Enthusiasmus durchdrungen ist. Aber insgesamt ist es wahr
und ich schreibe es allen meinen Lesern zur Ermutigung.