Samstag, 31. Dezember 2016

Habt Vertrauen


Das folgende Psalmwort war vor ein paar Tagen die Tageslosung:

Ich glaube, auch wenn ich sage: Ich werde sehr geplagt. 
(Psalm 116,10, Luther-Übersetzung). 

Der Sinn dieses Satzes erscheint zunächst klar zu sein, lässt sich aber in verschiedene Richtungen ändern, wenn man beim Übersetzen näher hinsieht. Von den sechs Worte des hebräischen Psalms* sind nämlich wenigstens drei nicht ohne Sinnverschiebung ins Deutsche zu übertragen.

Freitag, 25. November 2016

Reise ins Heilige Land (X): Italiener in Bethlehem


Papamobil mit Frisiersitz
Die Geburtsstadt Jesu hat nicht nur jahrhundertealte Schätze vorzuweisen. Sie blickt auch stolz auf ein neues italienisches Café, in dem mit modernsten italienischen Maschinen ein Kaffee gekocht wird, der an römische Standards heranreicht. Auf der offenen Terrasse des Cafés, von der man einen weiten Blick ins Land hat, steht ein weiterer Stolz Bethlehems: das Papamobil, mit dem der italienischstämmige Franziskus bei seinem Besuch im Mai 2014 durch Bethlehem gefahren ist.

Anders als das Auto seiner Vorgänger Benedikt und Johannes Paul ist dieses Gefährt nicht mit gepanzertem Glas versehen, sondern nach allen Seiten offen. Es wurde Wert darauf gelegt, dass eine echte lokale Produktion für den Papst zur Verfügung gestellt wurde. Und so ist dieses Auto auch sympathisch lokal geworden: ein umgebauter kleiner Lieferwagen mit einer Ladefläche für den Papst und einem großen Dach aus Zeltstoff darüber. Alles ist hübsch weiß angestrichen wie es sich für päpstliche Einrichtungen gehört.

Donnerstag, 24. November 2016

Reise ins Heilige Land (IX): Durch das Wadi Auja


Am Eingang zum Wadi Auja
Von der hoch über dem Jordantal gelegenen kleinen Stadt Kafr Malek geht ein steiler Weg hinunter zur Quelle Ein Samia. Von dieser Quelle werden große Teile der West Banks mit Wasser versorgt, so auch die Brauerei von NadimKhoury im nahen Taybeh, Endpunkt meiner ersten Wanderung in 2013.

Die Etappe des Abrahamswegs von Kafr Malek (etwa 800 m über dem Meer) über Ein Samia (400 m) nach Jericho (- 300 m, also unter dem Meeresspiegel) ist in zwei Tagesmärsche geteilt und geht im ersten Teil den steilen Canyon des Wadi Auja bis hinunter auf Meereshöhe hinab und von dort in einer zweiten Etappe in das noch einmal 300 m tiefer gelegene Jericho.

Meinem über alle Maßen geschätzter Wanderführer von 2013, Nedal Sawalmeh, war es kurzfristig gelungen, Nureddin und mich in eine norwegische Pilgergruppe einzugliedern, die mit 20 Personen auf dem Fußweg von Nazareth nach Bethlehem unterwegs war, dem "Nativity Trail".

Dienstag, 22. November 2016

Reise ins Heilige Land (VIII): Wege der Erinnerung


Der polnische Autor Andrzej Szczypiorski (1928 - 2000) hat als junger Mann die deutsche Besetzung Warschaus erlebt. Kurz vor seinem Tod sagte er bei einem Vortrag in Bonn, die damaligen Ereignisse seien bei ihm lebendige Erinnerung, dagegen seien sie bei seinem nach dem Krieg geborenen Sohn bereits entferntere Geschichte. Und für seine Enkelkinder seien sie so weit weg wie der Dreißigjährige Krieg.

Mich hat das damals beim Hören getröstet - das Vergessen kann ja friedensstiftend sein. Aber in Yad Vashem hat sich etwas in mir gesträubt, die Erinnerung als etwas anzusehen, das man mit der Distanz erlebt, die man zur Geschichte ferner Generationen hat. Der Massenmord an den Juden ist ja ein erschreckend modernes Ereignis - ein technisch hochentwickeltes Volk überlegt kalten Blutes, wie man mit industrieller Präsizion Millionen von schuldlosen Lebewesen töten kann.

Montag, 21. November 2016

Reise ins Heilige Land (VII): Yad Vashem



Der eindrücklichste Teil unserer Reise ist der gemeinsame Besuch der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem. Avi, der Sohn eines litauischen Juden, Nureddin, der Sohn eines anatolischen Türken und ich, der Sohn des Volkes, welches das ganze Unheil angerichtet hat, gehen durch die Galerie der schrecklichen Bilder und Dokumente. Meist lasse ich die beiden allein gehen und reden und betrachte die Filme und Bilder, von denen man sich immer wieder abwenden muss, weil man es nicht erträgt.

Sonntag, 20. November 2016

Reise ins Heilige Land (VI): Jerusalem von Gold


Jüdische Klagemauer und
Kuppel des muslimischen Felsendoms

Unser israelischer Freund Avi erzählt Nureddin und mir bei unserem Gang durch die westlichen Stadtteile von Jerusalem von der Zeit zwischen dem Niedergang des osmanischen Reiches um etwa 1850 und dem Beginn des britischen Mandates 1917. Am Beginn dieser Periode bestand Jerusalem nur aus der heutigen Altstadt. Sie lag innerhalb der Stadtmauern, die unter der türkischen Herrschaft die Form erhielten, die sie heute noch haben. Süleyman der Prächtige war der Erbauer, er regierte bis 1566 also etwa zu Zeiten Luthers und der Reformation.

Nach 1850 begannen die europäischen Mächte damit, sich für Jerusalem und für die dort befindlichen religiösen Minderheiten zu interessieren. Viele nationale Kirchengebäude entstanden, so der am Reformationstag 1898 von Kaiser Wilhelm persönlich eingeweihte Bau der Erlöserkirche. In gewisser Weise bildeten diese Kirchen eine Art von konsularische Vertretung ihrer Herkunftsländer in Jerusalem.

Samstag, 19. November 2016

Reise ins Heilige Land (V): Erschießt sie!


Veronica in Palästina, in iraelischem Auto
In der Sixt-Autovermietung am Flughafen von Tel Aviv, in der wir unseren kleinen Mietwagen für die Reise an den See Genezareth und danach an die Grenze nach Palästina abholen, werden wir von dem freundlichen Dor Klingner bedient. Als wir ihm sagen, dass wir später noch weiter nach Nablus in den besetzten West Banks fahren wollen, sagt er "not with our car!"

Das war uns bereits vorher bekannt, die Israelis vermieten in aller Regel die Leihwagen nur für Fahrten auf ihrem Staatsgebiet. Deshalb wollen wir den Wagen auch in Afula abgeben, das liegt vor der Grenze. Nun mischt sich die hübsche Kollegen von Dor, die bisher an einem zweiten Tisch eine andere Angelegenheit bearbeitet hat, ein und warnt uns, dass es in den palästinensischen Gebieten für uns gefährlich werden könnte. Wir sagen, dass wir keine Angst haben, aber sie bleibt bei ihrer Haltung und sagt am Ende "Shoot them!" Erschießt sie.

Freitag, 18. November 2016

Reise ins Heilige Land (IV): Besetzte Gebiete, neue Häuser


Auf der Fahrt nach Nablus fallen mir in den Vororten eine Reihe von schönen neuen Häusern auf, die ich schon vor einigen Jahren in ähnlicher Weise gesehen habe, die jetzt aber offenbar an Zahl zugenommen haben. Es sind meist mehrgeschossige Häuser, alle aus dem schönen gelblich-weißen Kalkstein gebaut, der hier in der Gegend in den Steinbrüchen zu finden ist.

Die Israelis nennen ihn Jerusalemstein, auch Meleke, den "Königlichen", die Palästinenser sagen "Heilig-Land-Stein". Er wird in große Blöcke von etwa 40 × 20 cm Kantenlänge geschnitten, wobei die Größe des Steins in vielen Gebäuden annähernd gleich ist. So entsteht unter den Häusern auf beiden Seiten der Demarkationslinie eine einheitliche Erscheinung, die vielfach eine sehr schöne Wirkung entfaltet.


Donnerstag, 17. November 2016

Reise ins Heilige Land (III): Christ und Türk


Im Hintergrund eines der "Hörner von Hattin"
Unsere zweite Übernachtungsstation ist das Gästehaus der Familie Shavit im Dorf Arbel*, hoch über dem See Genezareth. Der Blick aus unserem Fenster geht zu den "Hörnern von Hattin", einem markanten Doppelberg, an welchem die Muslime unter der Führung des Feldherrn Saladin in der Schlacht von Hattin im Jahre 1187 die christlichen Kreuzfahrer entscheidend schlugen und dann wenig später Jerusalem für den Islam zurückerobern konnten.

Zwar handelt es sich nicht um einen türkischen Sieg, die Türken lebten damals überwiegend noch in Zentralasien, aber die Schlacht von Hattin gehört zusammen mit der türkischen Eroberung von Konstantinopel und deren Belagerung von Wien zu einer Serie von Schreckensbildern, die tief in den Herzen der Christen ihre Angst vor den Muslimen nährt.

Mittwoch, 16. November 2016

Reise ins Heilige Land (II): Glaube und Unglaube am See Genezareth


In dem Moment, als unser kleiner Mietwagen die Straße am Seeufer verlässt und in die Bergstraße nach Obergaliläa einbiegt, denke ich daran, dass  Nureddin und ich den See möglicherweise zum letzten Mal in unserem Leben sehen. Nureddin ist vornehmlich in Israel, um in Jerusalem zu beten. Wenn er je wiederkommen wird, dann nur, um Jerusalem noch einmal zu sehen. Ich selbst bin von der nervösen Stimmung meiner langen Vorbereitungszeit noch ganz durchdrungen und trage den Vorsatz in mir, den Rest meines nun bald 70jährigen Lebens nur noch kurze und einfache Reisen zu machen.

Reise ins Heilige Land (I): Mit muslimischen Augen sehen



Mein Reisebegleiter und Freund Nureddin wollte immer schon einmal nach Jerusalem, um am zweitheiligsten Platz der Muslime, der al-Aqsa-Moschee zu beten. Ich wiederum wollte noch einmal meine Freunde aus den Wanderungen auf dem Abrahamsweg sehen, und so wurde unser Plan geboren, eine gemeinsame Reise nach Israel und Palästina zu unternehmen.

Schon am ersten Abend wurde mir klar, dass ich mit der Hilfe von Nureddins muslimischen Augen sehr viel mehr sehen würde als nur mit meinen eigenen. Er hat eine ganz eigene Antenne für das muslimische Leben in Israel. Gleich zu Beginn unserer Reise erlebten wir in der alten palästinensischen Staat Jaffa gemeinsam das etwas zurückgebliebene Leben, das man an vielen Orten des Mittelmeers wie eine Erinnerung an alte osmanische Zeiten erleben kann. Die Straßen in der Altstadt sind eng, die Häuser sind in einem manchmal nicht mehr allzu guten Erhaltungszustand und die Strom- und Telefonkabel sind über die Fassade geführt. Aber die Gerüche aus den Imbissständen und den Restaurants und die Geräusche aus den Geschäften sind einladend und verheißungsvoll.

Sonntag, 30. Oktober 2016

Berlin 1934 / Ankara 2016

Weltkongress der Baptisten 1934 in Berlin
Eine Geschichte meiner baptistischen Kirche, zu der ich praktisch seit meiner Geburt gehöre und der mein Großvater Erwin Bohle als Prediger gedient hat. Möglicherweise war er beim Weltkongress der Baptisten 1934 in Berlin dabei, er war damals 37 Jahre alt.

Eine amerikanische Delegation besuchte damals den Weltkongress, darüber berichtet später (1982) ein Artikel in Religion Online. Man wusste in Amerika bereits vor Antritt der Reise nach Deutschland von den Säuberungen im Zusammenhang mit dem Röhm-Putsch und von beginnenden Zwangsmaßnahmen gegen die Juden. Wie sollte man sich zu den politischen Entwicklungen in Deutschland stellen? Sollte man überhaupt einen Kongress in Deutschland besuchen?

Dienstag, 20. September 2016

Kathedralen der Neuzeit


Aus der seligen Zeit, in der Robert Gernhardt und F.K.Waechter noch ihre Karikaturen, Reime und Geschichten veröffentlichten, ist mir eine „Legende“ in Erinnerung, die in etwa wie folgt erzählt wird: die englische Königin Victoria habe sich einmal während einer Jagd tief im Unterholz verirrt, wo ihr ein besonders großer Hirsch mit einem goldenen Kreuz im Geweih erschienen sei Der habe ihr den Rückweg gewiesen. Die vollkommen ergriffene Königin gelobte sogleich, an dieser Stelle  einen Bahnhof zu bauen. So kam es zum Bau der Victoria Station.

Donnerstag, 15. September 2016

Wanderungen in der Mark Brandenburg (VI): Berlin als Endziel?

Unser Urlaub hier im Havelland in der Nähe von Berlin sollte hauptsächlich dazu dienen, unsere vier in Berlin lebenden Kinder, deren Partner und die vier Enkelkinder noch einmal lange und ausgiebig sehen zu können. Das ist auf wunderbare Weise gelungen, bei bestem Wetter. Wir sind wieder zu Hause in Remscheid und blicken auf viele schöne Tage zurück.

So ein bisschen stand bei unserer Reise aber zweitens auch die Frage im Hintergrund, ob wir uns nach unserem Eintritt ins Rentnerleben auch in Berlin oder im Umland niederlassen könnten. Diese Frage ist nicht so ganz leicht zu beantworten.

Dienstag, 13. September 2016

Wanderungen in der Mark Brandenburg (V): Der schwarze Eichenstumpf in Lehnin


Altarraum der Klosterkirche Lehnin
Von dem Zisterzienserkloster Lehnin aus haben Mönche nach dem Jahre 1180 große Teile des Landes urbar gemacht und den slawischen Völkern hier das Evangelium gebracht. Viele Legenden ranken sich um den frommen Markgrafen Otto, der das Kloster gestiftet hat, und um seinen ersten Abt, den Abt Sibold.

Samstag, 10. September 2016

Wanderungen in der Mark Brandenburg (IV): König Friedrich, ohne Sorge, ohne Frau



Dass König Friedrich in Schloss Sanssouci, dessen Name ja ohne Sorge heißt, wirklich sorgenfrei gelebt hat, ist kaum anzunehmen. Er ist bereits morgens um Vier von seinem harten Feldbett aufgestanden und hat sich den Staatsgeschäften zugewandt. Seine militärische Disziplin war sicherlich etwas, das aus der Sorge geboren war. Es sollte wohl helfen, die Sorge wenn nicht zu besiegen, sie doch immerhin auf Abstand zu halten.

Donnerstag, 8. September 2016

Wanderungen in der Mark Brandenburg (III): Obst für Berlin (und Ziegel)

Werder, Alte Hauptstraße
Die große Zeit für unseren Ferienort Werder an der Havel brach an, als mit dem schnell wachsenden Berlin im 19. Jahrhundert ein riesiger Markt für landwirtschaftliche Produkte sozusagen vor der Haustür entstand. Man spezialisierte sich bald auf den Anbau von Obst und wurde dabei offenkundig (so schreibt es Theodor Fontane) von eingewanderten Spezialisten aus Frankreich und Holland unterstützt. Hilfreich war es, dass man die anfangs gebräuchlichen "Schuten", die mit Menschenkraft gerudert werden mussten, bald durch Dampfschiffe ersetzen konnte, welche große Lastkähne, schwer mit Obstkisten ("Tienen") beladen, nach Berlin schleppen konnten.

Dienstag, 6. September 2016

Wanderungen in der Mark Brandenburg (II): Der glückliche König


Luise, Marmorbüste in Schloss Paretz
Friedrich Wilhelm III., König in Preußen von 1797 bis 1840, verdankte sein Lebensglück der Heirat mit der ungewöhnlich schönen Prinzessin Luise. Dem Volk war ihre Schönheit bekannt und auch, dass die beiden in einer echten Liebesbeziehung zueinander standen. Das verstärkte die Verehrung für die als natürlich geltende und dem steifen Hofzeremoniell abgeneigte Prinzessin.

Montag, 5. September 2016

Wanderungen in der Mark Brandenburg (I): Berliner Weiße


Heute Abend habe ich aus Solidarität mit der hiesigen Landbevölkerung zum ersten Mal in meinem Leben Berliner Weiße mit Schuss getrunken - das grüne Getränk im Bild hinten. Ich hatte zuvor bei Theodor Fontane gelesen, dass dieses typische und bis heute vorherrschende Berliner Bier im 19. Jahrhundert eine unerwartete Konkurrenz aus dem Ort bekommen hatte, in dem wir seit heute Ferien machen: Werder an der Havel.

Hier in Werder wurde für einige Jahrzehnte eine ins Bräunliche gehende Konkurrenz zum hellen Weizenbier hergestellt, das in Berlin und Umgebung traditionell "Weiße" heißt, weil es ein Wei(s)zenbier ist.

Sonntag, 4. September 2016

Mystik (II): Die Verwirklichung meiner selbst

Eisvogel / Kingfisher
Der Begriff der Selbstverwirklichung hat sich in den letzten Jahren stark abgenutzt hat, nachdem eine ganze Generation von genussorientierten Menschen in der Selbstverwirklichung ihr Heil gesucht und oft nicht gefunden hat.

So wie Taylor allerdings die Selbstverwirklichung in den Gedichten von Gerard Manley Hopkins  (1844 - 1889) beschreibt, ist sie vollkommen Anderes.

Donnerstag, 1. September 2016

Mystik (I): Die Kraft der Erinnerung



In Charles Taylors großem Buch über die Moderne ("Ein säkulares Zeitalter") sucht der tief in seiner christlichen Erziehung verwurzelte Philosoph nach neuen Wegen zu einer Rückgewinnung des Glaubens in einer glaubenslos gewordenen Welt.

Taylor steht vorsichtig vor einem Rückweg aus der Entzauberung der modernen Welt. Der Zauber soll wiederentdeckt werden, so wie ihn die Menschen früherer Generationen noch gekannt haben. Er kann uns Heutigen eine Vision eröffnen, durch die wir in die Realität einer anderen Welt schauen. Taylor beschreibt gleich zu Beginn des Buches das Bekehrungserlebnis eines jungen Mannes, dessen Ausgangspunkt das visionäre Erlebnis von Fülle (fullness) ist, eine mystische Naturerfahrung, die sein Leben völlig ändert.

Freitag, 29. Juli 2016

Erdoğan und Gülen – der Tag der Trennung, 2. Juni 2010


Mavi Marmara
Die folgenden Gedanken habe ich vor einigen Monaten in der türkischen Zeitung "Zaman" gelesen, als diese noch nicht verboten war. Ich glaube, dass sie richtig sind. Sie haben mich an viele Einzelheiten einer Zeit erinnert, die ich sehr intensiv durchlebt habe, die Zeit der beiden Gazakriege 2008 und 2014 und die Veränderungen in der Türkei im gleichen Zeitraum.

Montag, 25. Juli 2016

Gülen im Original


Fethullah Gülen schreibt in Le Monde am 17. Dezember 2015, einen Monat nach den Anschlägen in Paris das Folgende: 

Muslime, lasst uns unser Verständnis von Glauben kritisch untersuchen

Es fällt mir schwer, meine Betrübnis über die Gräueltaten des IS und ähnlicher Terrorgruppen in Worte zu fassen. Dass solche Gruppen bei der Ausübung von Terroranschlägen ihre perversen Ideologien in religiöse Gewänder verhüllen, stürzt mich, wie die übrigen 1,5 Milliarden Muslime der Welt auch, in tiefe Trauer. Als muslimische Gemeinschaft ist es einerseits unsere Aufgabe, Schulter an Schulter mit allen anderen, die Menschheit vom Übel des Terrorismus zu befreien und andererseits zu versuchen, das Antlitz unserer Religion von diesem dreckigen Teer zu säubern.

Donnerstag, 21. Juli 2016

Meine Türkei

Eine Liebeserklärung

Heute auf den Tag genau vor 45 Jahren bin ich in Istanbul angekommen, unterwegs zu einem zweimonatigen Bankpraktikum, das ich ein bisschen unwillig angetreten bin, nachdem ich mich vorher für ein Praktikum in den Vereinigten Staaten beworben hatte. Ich wurde aber von der die Praktika vergebenden Studentenorganisation AIESEC nicht für die USA angenommen, sondern auf die Türkei verwiesen.

Montag, 18. Juli 2016

Enthusiasmus (II)



Nachtrag 1: Enthusiasten und Hysteriker

Nachdem ich meine Rede zum Geburtstag der Schwester beendet hatte, saß ich noch mit zwei alten Bekannten zusammen und habe mit ihnen über Enthusiasmus gesprochen. Ich habe dabei zwei neue Dinge gelernt.

Zum ersten: der erste Bekannte sagte mir, dass Sigmund Freud ähnliche Phänomene wie den Enthusiasmus als „hysterische Reaktion“ beschrieben habe. Als solche wären sie natürlich von Beginn an krankhaft und müssten ärztlich behandelt werden.

Ich habe mich über diesen Kommentar ein wenig geärgert. Mir ist  im späteren Nachdenken darüber klar geworden, was mir an Enthusiasmus gefällt und was mir an hysterische Reaktion missfällt. Beides ist jeweils die Bewertung eines menschlichen Verhaltens, das sich an der Grenze der Normalität oder bereits jenseits davon bewegt. An Enthusiasmus gefällt mir, dass Kay Jamison ihn zunächst als etwas Natürliches und sogar Sympathisches ansieht, und dass er erst dann eine Gefahr bedeutet, wenn er sich übersteigert und noch später, in einem Akt der Selbsterkenntnis, erschrickt und in das genaue Gegenteil, die finstere Depression, umschlägt. Jamison hat beides erlebt, den Enthusiasmus und die Depression, und die Menschen lesen ihre Schriften offenbar deshalb gerne, weil sie aus diesen besonderen Erfahrungen heraus authentisch sind.

Dagegen klingt hysterische Reaktion deutlich herabsetzend. Es bedeutet immer eine Einstufung als Krankheit. In der Folge haben die Schüler Siegmund Freud es ja auch gut verstanden, um die von ihnen diagnostizieren Krankheiten herum ein Versorgungssystem aufzubauen, das nur von teuren Ärzten bedient werden kann. So wurde Psychologie zu einer Form des kostenpflichtigen Austausches von Lebensrat.

Sigmund Freud hat einmal gesagt, dass seine Psychologie eine Kränkung der Menschheit ist, zusammen mit der kosmologischen Kränkung des Kopernikus (die Erde ist nicht der Mittelpunkt des Weltalls) und der biologischen Kränkung Darwins (der Mensch stammt vom Tier ab).

Nach meinem Eindruck sind Psychologen wie Jamison, die statt „hysterischer Reaktion“ nur „Enthusiasmus“ sagen, auf dem Weg, diese Kränkung ein wenig zu mildern.

Ein zweiter Kommentar in dem Gespräch nach der Rede war, dass es in den Reihen der Christen bedauerlicherweise bis heute nicht erlaubt ist, über starke Gemütsschwankungen zu reden. Depressivität wird verdrängt, sagte mir mein zweiter Gesprächspartner. Auch das hat mich letztlich geärgert, weil ich ein Bild vom Zusammenleben der Menschen habe, in dem der eine dem anderen seine Sorgen und Nöte sagen darf. Voraussetzung ist ein gewisses Vertrauen.

Zwar gibt es die Scheu, mit Störungen im Haushalt der Seele nach außen zu treten. Diese Scheu ist natürlich, sie sollte aber nicht durch gesellschaftliche Konventionen verstärkt werden, die eine ehrliche Rede darüber verbieten. Nach meinem Eindruck ist das in den vielen christlichen Gruppen aber auch gar nicht der Fall.

Ich stelle mir eine christlich geprägte Gesellschaft vor, in der es eine breite Akzeptanz von seelischen Extremlagen gibt, sowohl in Richtung übersteigertem Enthusiasmus als auch in Richtung übersteigerter Melancholie. Und es sollte in dieser Gesellschaft – anders als bei den Zirkeln um Sigmund Freud – auch eine breite Palette von Hausmitteln bekannt sein, mit denen der eine Mensch den anderen beratend behandeln darf, ohne dass man gleich zu einem teuren Doktor laufen muss.

Ich erinnere mich an eine Tagebuchnotiz des verstorbenen Journalisten Johannes Groß, der die Überschrift in einer Zeitung 30 % der Studenten benötigen eine psychologische Behandlung mit den Worten kommentierte: so einen Beruf möchte er auch haben, der sich seine Kundschaft selbst erschaffen kann.




Nachtrag 2: Im Wechselbad der Gefühle, eine Deutung des Paulus

Einige Tage nach Esthers Geburtstag las ich in einem Pauluskommentar von Norbert Baumert eine enthusiastische Äußerung des angeblich so leibfeindlichen und von daher freudlosen Apostels Paulus. Baumert interpretiert dort einen Abschnitt aus dem ersten Korintherbrief (Kapitel 6, 12 – 20) und gibt sich dabei sehr viel Mühe, den von verschiedenen Auslegern unterschiedlich bewerteten Abschnitt in Vers 14 zu klären, in dem Paulus schreibt

Gott aber hat den Herrn auferweckt und wird auch uns auferwecken durch seine Macht. 

Wann ist der Zeitpunkt, an dem Gott „uns auferwecken wird“? Baumert argumentiert nach verschiedenen Seiten hin und kommt am Ende zu dem Schluss, dass diese Auferweckung ein präsentischer Vorgang ist, Gott erweckt uns  j e t z t  und lässt uns  j e t z t  teilhaben an der Kraft des Auferstehungsleibes. Von daher ist es für uns abwegig (so fährt der Abschnitt fort), wenn wir diesen Leib eins werden lassen mit dem einer Prostituierten. Darauf will Paulus am Ende des Abschnittes als praktische Mahnung an die Korinther hinaus.

Von einer anderen Stelle im zweiten Korintherbrief her (Kapitel 4, 11)

Denn ständig werden wir, die Lebenden, dem Tod überliefert um Jesu willen, damit auch das Leben Jesu an unserem sterblichen Fleisch offenbar werde.

übernimmt Baumert dann die Anschauung, dass unser Leben ein beständiger Wechsel von Sterben und Auferstehen ist, ebenfalls im Hier und Heute. Wir sterben in unseren Sorgen und Nöten  und in unseren Bedrängnissen, wie es im Johannesevangelium heißt (Kapitel 16, 33, Luthertext)

In der Welt habt ihr Angst.

Wir erliegen dieser Bedrängnis-Angst, aber wir stehen immer wieder auf, weil wir - so interpretiert Baumert die Korinther-Stelle - an den Auferstehungsleib Christi angeschlossen sind.

Diese Deutung gefiel mir und war mir eine Antwort auf meine morgendlichen Bedrängnisse bezüglich der immer wiederkehrenden sorgenvollen und manchmal dunklen Gedanken vor dem Aufstehen. Das wäre also der Teil von mir, der immer wieder stirbt! Aber wenn ich dann morgens unter der Dusche stehe und mich anfange meines Lebens zu freuen, dann dusche ich also meinen Auferstehungsleib!

Ich sehe, wie am Ende das alles, was ich schreibe, von meinem gegenwärtigen Enthusiasmus durchdrungen ist. Aber insgesamt ist es wahr und ich schreibe es allen meinen Lesern zur Ermutigung.



Sonntag, 3. Juli 2016

Ein Enthusiast: meine Schwester Esther


Rede zu ihrem 60. Geburtstag
Liebe Esther, liebe Geburtstagsgäste,

Esther in ihrer Kabarett- Rolle
als Frau Schnobelsberger
ich möchte gerne etwas zum Verständnis meiner Schwester Esther beitragen, indem ich etwas (eher Theoretisches) aus dem Lebensumfeld berichte, in dem sie sich bewegt. Es ist das Feld der Enthusiasten. Diesen Begriff hat die amerikanische Psychologin Kay Jamison für eine bestimmte Lebensweise geprägt, über die vor einigen Jahren im Spiegel ein Interview unter dem Titel "Champagner der Gefühle" erschein. Sie erzählte darin vom faszinierenden Leben dieser Typen, die optimistisch und zupackend sind und immer ein wenig extrovertiert.

Dienstag, 31. Mai 2016

Oslo


  
500 Kroner, etwa € 50,-
Das erste, was man als Deutscher über die norwegische Sprache lernen muss: nicht jedes deutsche "O" ist automatisch ein norwegisches "Ö". Ein Glas Wein kostet 100 Kroner  nicht "Kröner", und man muss schon zum weltbekannten Smørrebrød übergehen, um in den Genuss eines richtig skandinavischen Øs zu kommen. Das "U" wird wie in Frankreich als "Ü" gesprochen, und wenn etwas als "U" klingen soll, schreibt man es "O". Die Hauptstadt heißt also eigentlich Uslu, Uslu in Nurwegen. Ich übertreibe etwas.

Samstag, 14. Mai 2016

Schechina

Zu den schönsten Worten, die man beim Lesen der Erzählungen der Chassidim (Martin Buber, 1949) lernt, gehört das Wort Schechina. Es bezeichnet  „die der Welt einwohnende Gegenwart Gottes“, sein Erscheinen unter den Menschen, Sein Sich-Niederlassen.

Das Wort  aus Psalm 139 (Vers 9)

Nähme ich die Flügel der Morgenröte und ließe mich am äußersten Meer nieder, so würde auch dort deine Hand mich führen und deine Rechte mich ergreifen.

Freitag, 19. Februar 2016

Nachrichten aus Refugistan


Parallelwelten existieren oft so, dass sie zwar eng mit unserer täglichen Lebenswelt verwoben sind, von uns aber praktisch niemals wahrgenommen werden. In der Zauberwelt von Harry Potter ist es die Parallelwelt der Hogwartschule. Zu ihr führt ein geheimer Zugang, der Bahnsteig 9¾ im Londoner Bahnhof King’s Cross. In unseren Städten ist es ganz ähnlich, man muss hier nur in bestimmte Straßen gehen, an bestimmten Türen klopfen und wird dann in der Regel von einer Gruppe junger Männer oder auch von einem Ehepaar mit Kindern begrüßt werden, die in einer spartanischen Einrichtung aber in reinlichen Verhältnissen ihr Leben führen.

Montag, 8. Februar 2016

Siri verändert die Welt

Dag Kittlaus
Einer der Erfinder des Sprachsystems Siri auf dem iPhone, der Amerikaner Dag Kittlaus, hat 2010 alles das, was er bis dahin für Siri entwickelt hatte, für 200 Millionen Dollar an Apple verkauft. Die Grundidee von Siri lässt ihn aber weiterhin nicht los. Er hat jetzt eine neue Firma mit Namen „Viv“ gegründet, die den Gedanken einer sprachgesteuerten Computerzukunft weiter vorantreiben soll. 

In einem Artikel des Guardian erfährt man, dass die ursprüngliche Idee von Siri offenbar nicht so sehr die Umsetzung von Sprache in Schrift war, die funktioniert ja mittlerweile sehr gut (ich benutze sie gern). Es ging den Entwicklern um mehr, man wollte erreichen, einem Computer ein komplexes Problem in der einfachen Form eines gesprochenen Satzes vorzutragen und den Computer befähigen, dieses Problem zu lösen.

Samstag, 16. Januar 2016

Der grazile Gott


חֵן

Der Name meines neugeboren Enkels - Johann - bedeutet übersetzt, dass Gott gnädig ist. "chana" heißt im Hebräischen "gnädig sein". Das Wort kommt erstmals in der bekannten Sintflutgeschichte vor, wo es heißt "Noah fand Gnade ('chen') in den Augen Gottes".

Samstag, 9. Januar 2016

A Broken Hallelujah


Leonard Cohen
(Translation into English below)

Heute, am Morgen meines 67ten Geburtstages, habe ich mich noch ganz in der Frühe ans Klavier gesetzt und Leonard Cohens "Hallelujah" gespielt und gesungen. Ein frommer Freund hatte mir vor ein paar Tagen erzählt, er wolle dieses Lied eines Tages auf seiner Beerdigung gespielt haben, und ich hatte mich von daher für den Text interessiert und mir ihn aus dem Internet besorgt. Ich fand ihn viel schöner als ich ihn in Erinnerung hatte.