Anuk Steffen, 9, als Heidi und Bruno Ganz, 74, als Almöhi
Das schönste, was man über diesen Film sagen kann, ist, dass
er auf so natürliche Weise natürlich ist. Nirgendwo ist von dem aus Katalogen
bekannten Wohlgefühl die Rede, das der moderne Städter mit "Natur pur" bezeichnet.
Nirgendwo wird Natur mit einer Ideologie verbunden – etwa: Natur ist Gesundheit, Natur
ist Langsamkeit, Natur ist Zu-sich-selbst-finden usw. Natur wird nicht
reflektiert, sie ist in diesem Film einfach nur da. Man findet sie in den
erhabenen Bergansichten rings umher, im zerfurchten Gesicht des Almöhi
(wunderbar gespielt von Bruno Ganz, nie wieder wird man sich den Almöhi anders
vorstellen können als in dieser Verkörperung) und am Ende in den unschuldigen
Gestalten der Kinder Heidi, Klara und Peter.
Im Kölner Dom hängt in einer Seitenkapelle ein Marienbild. Im Gesicht der schönen Gottesmutter hat Heinrich Heine auf einer Reise* nach Köln die Züge einer Geliebten wiedererkannt. Er hat ein Gedicht über dieses Bild gemacht:
Im Rhein, im heiligen Strome, Da spiegelt sich in den Well'n Mit seinem großen Dome Das große, heilige Köln.
Im Dom, da steht ein Bildnis, Auf goldenem Leder gemalt; In meines Lebens Wildnis Hat's freundlich hineingestrahlt.
Es schweben Blumen und Englein Um unsre Liebe Frau; Die Augen, die Lippen, die Wänglein, Die gleichen der Liebsten genau.
Kann man einen Science-Fiction-Film, in dem eine
Zeitmaschine die Handlung vorantreibt, mit Genuss ansehen, wenn man dabei selbst gar
nicht daran glaubt, dass es eine solche Zeitmaschine tatsächlich gibt? Unsere
Erfahrung lehrt uns: man kann das, jedenfalls für eine gewisse Zeit. Kann man aber auch sein ganzes Leben nach bestimmten Grundannahmen gestalten und dabei im Zweifel sein, dass sie sich beweisen lassen? Ein Beispiel: kann man
moralische Forderungen wie „Stehlen ist schlecht“ als Grundsatz akzeptieren,
auch wenn man nicht davon überzeugt ist, dass es überhaupt letztgültige Grundsätze gibt?
Er steht auf beim Gesang der Vögel
(Prediger 12,
4*)
Nach einer Reihe von Gesprächen mit Leuten im Alter über Siebzig bin
ich zu einigen Überlegungen gekommen, was meine mit dem Älterwerden zunehmenden
Schlafstörungen betrifft. Als erstes habe ich im
Internet gefunden, dass viele Kulturen den unruhigen Schlaf kennen und ihn für
normal halten. Auch im Deutschen gibt es ja das Wort vom "ersten
Schlaf", also von einer Periode, die recht frühzeitig unterbrochen wird Man
findet Berichte, dass Menschen in vielen Teilen der Welt die Nacht
in wenigstens zwei Phasen teilen, die sie als den ersten und zweiten Schlaf
erleben.
Wenn man mir am 11. September 2005 prophezeit hätte, dass
jetzt zehn gesundheitlich unbeschwerte Jahre vor mir liegen würden, am Ende
sogar mit guter Aussicht auf eine weitere Verlängerung, hätte ich es nicht geglaubt.
Ich hatte im August 2005 beim Joggen einen dumpfen Schmerz in der Herzgegend
verspürt, der zwar wieder verschwand, der sich aber wenige Tage später
erneut einstellte, als ich einen kurzen Weg einen steilen Berg hinauf zu machen
hatte.
Hausarzt und Kardiologe rieten mir zu einer
Katheter-Untersuchung, die dann am 11. September stattfand und aufzeigte, dass
zwei große Venen an meinem Herzen verengt waren. Sie wurden sogleich mit einem
über die Leiste eingeführten Hochdruckballon aufgeweitet und durch einen Stent
(und einem weiteren zwei Tage später) offen gehalten.
Es wäre sicherlich schöner für mich, ich könnte anhand der Seitenaufrufe aus meiner
Blog-Statistik von der Freude am Lesen schreiben, die eine große Zahl von Besuchern meines Blogs
empfindet. So wie die Sache allerdings derzeit steht, sind die Seiten aus
meinem Urlaub jeweils nur etwa 30 mal angeklickt worden, maximal etwas mehr als 50
mal. Keine besonders große Zahl an Lesern also.
Deshalb schreibe
ich hier lieber von der Freude am Schreiben
und von mir selbst. Ich muss dabei zunächst berichten, dass sich in diesem Urlaub eine
resignative Gewissheit eingestellt hat, dass ich altersbedingt nicht mehr so lange
schlafen kann wie in jüngeren Jahren. Ich werde meist nach vier Stunden Schlaf
wieder hellwach und falle danach oft nur mit Mühe in einen flachen, von wirren
Träumen und krausen Gedanken gestörten Schlaf. Damit ist insgesamt allerdings recht gut zu leben,
denn die Phasen der Bettruhe im Wachzustand reichen offenbar aus, um am Tag
nicht von einem beständigen Müdigkeitsgefühl begleitet zu werden.
In einem
Kriegsbericht von Ernst Jünger habe ich gelesen, wie dieser beim Vorrücken seiner Kompanie 1940 in Frankreich mit einer sehr hinderlichen Augenentzündung
morgens zu einem sehr langen Marsch aufbrechen musste. Zu seiner Verwunderung war
die Entzündung am Abend vollkommen abgeklungen. Er kommentierte dazu, "Das Militär kennt das Heilmittel
des langen Marsches."
Auch wir
haben dieses Heilmittel in einer verkleinerten Form erlebt, nachdem wir einige
Wanderungen am Ende so ausgedehnt hatten, dass wir abends recht erschöpft und müde ins Quartier
zurückkehrten. Besonders der Aufstieg auf den Schlern und das Ankämpfen gegen
orkanartige Windböen oben auf der Höhe haben uns viel Kraft gekostet, und der anschließende Abstieg am nächsten Tag wurde zu einer ordentlichen Qual, bei der am Ende jeder Schritt weh tat.
Der Begriff
der „Sommerfrische“ ist vor vielen Jahren auf dem Ritten, dem Hausberg der Bozener
Stadtbevölkerung entstanden, welche hinauf auf die Höhen geflohen war, um der aus
dem Mittelmeerraum einfließenden heißen Luft zu entkommen. Die kann im Talkessel selbst
im September noch für ein stickiges Klima sorgen. Wer von den Bozenern genug Geld hatte, baute
sich ein Ferienhaus am Hang des Ritten.
Frank-Walter Steinmeier, der deutsche
Außenminister soll hier Urlaub machen, was auf einen bei Sozialdemokraten
häufig anzutreffenden feinen Geschmack für urban erschlossene Natur hinweist. "Ein gutes Buch" habe er dabei, ließ er bei seinem letzten Urlaub auf Facebook verlauten. Kultur und Sommerfrische - eine vorbildliche Verbindung.
In diesem
Jahr bin ich erstmals mit einem GPS-Gerät in den Bergen unterwegs, einem „Navi“
für Wanderer sozusagen. Das ist in einer Gegend mit sehr gut ausgeschilderten
Wanderwegen nicht unbedingt notwendig, aber das System hat doch einige Stärken,
über die ich mich immer wieder freue. Ich hatte mir bereits vor längerer Zeit
das App „Maps 3D“ auf mein iPhone geladen und hatte es schon bei anderen
Gelegenheit auf Wanderungen ausprobiert. Man kann mit Hilfe dieses Programms Wanderkarten
herunterladen und sich damit vom Internet, das man nicht überall fern der
Zivilisation zur Verfügung hat, und von Google Maps unabhängig machen. Man kann
die Karten (die sich über Maps 3D ohne Komplikationen punktgenau herunterladen lassen)
wenn man will so stark vergrößern, dass auf dem iPhone ein Geländeausschnit mit einer Länge
von etwa 500 m erscheint (der Ausschnitt links ist nur geringfügig vergrößert und zeigt ein Gelände von etwa 5 km Breite). Wege sind, wenn man die starke Vergrößerung wählt, mit kleinsten Windungen erkennbar, Häuser
erscheinen als kleine Rechtecke, Höhenlinien sind sichtbar, und man kann sich,
indem man die Karte unter dem kleinen Fadenkreuz in der Mitte hin und her
bewegt, für jeden Punkt im Gelände die Höhe anzeigen lassen.
Man sagt,
der Schlern sei das Wahrzeichen Südtirols, und vielleicht erklärt sich das
daraus, dass man ihn aus den Straßenzügen Bozens heraus immer wieder gut sehen
kann. Er verschließt den Blick in das nach Norden zum Brennerpass führende
Eisacktal mit seiner massiven grauen Krone gewissermaßen nach oben. Von Westen
und Osten sieht er mit seiner topfeben erscheinenden Oberfläche fast wie ein
Würfel aus - etwa 2 km mal 2 km in der Grundfläche und annähernd 1,5 km in der
Höhe. Von Norden kommend sieht man allerdings, dass er in der Mitte von einer
"Klamm", dem steilen Bett eines Wildbachs in zwei Hälften geteilt
wird. Hier stehen auch zwei markante, dem Gebirgsmassiv vorgelagerte Spitzen, die
raketenähnlich, zusammen mit der geraden Linie der Hochfläche das an ein mathematisches
Wurzelzeichen erinnernde Symbol für den Tourismus in diesem Gebiet geben.
Eine erneute
Begegnung mit der Erinnerung an meinen Vater gab es heute, und zwar an einer ganz
unerwarteten Stelle.
Die Sache
ging so vonstatten. Auf dem beliebten Puflatsch-Rundweg auf der
Seiser Alm war an diesem schönen Spätsommertag so viel Betrieb, dass sich eine Straßenmusikantin auf das zur
Bergstation der Seilbahn führende letzte Stück des Rundweges stellen und,
geradewegs so, als ob sie sich in einer Fußgängerzone befände, mit einem
kleinen Sammelkorb Spenden für ihre Musik einsammeln konnte. Ihr Vortrag erwies
sich, wie wir schon aus großer Entfernung hören konnten, durchaus als spendenwürdig:
die Sängerin sang, sich selbst schön auf einem Akkordeon begleitend,
Volkslieder aus dem Bereich der Seiser Alm, teilweise sogar in dem hier in
einigen Tälern noch gesprochenen Ladinsch,
einer alten romanischen Sprachform, dem Rätoromanischen verwandt, das nicht
weit von hier in Graubünden gesprochen wird.
Hier im
Alpengebiet zwischen Brennerpass und Bozen werde ich besonders an meinen Vater
erinnert, der heute am Tag 95 Jahre alt geworden wäre. Seine ewig junge Hochstimmung
beim Anblick der ersten Alpenberge kann ich jederzeit nachempfinden, sein Lied
vom „Olmenwilly“ nachsingen (Joleradiho!) und seine angestrengte Arbeit
bewundern, unsere Familie mit den fünf Kindern über die Alpen zu befördern. Das kann
ich immer dann besonders würdigen, wenn ich links und rechts der modernen
Brenner-Autobahn die alte Passstraße sehe, über die er sich damals noch samt
Wohnwagengespann hinaufquälen musste.
Predigt im Gottesdienst in der JVA Remscheid-Lüttringhausen
Ich habe eine Geschichte mitgebracht aus den ersten Tagen
des christlichen Glaubens. Sie stammt aus der Zeit um das Jahr 40 und erzählt
eine Begebenheit auf dem Weg, den der Glaube durch das römische Reich genommen
hat, und auf dem er sich ausgebreitet hat.
Die Amerikaner lesen zur Zeit Go Set A Watchman, jedenfalls haben sie das in der vergangenen Woche erschienene Buch so millionenfach vorbestellt wie man es sonst nur von der Harry-Potter-Serie kannte. Sie haben Harper Lees 40 Millionen mal verkauften Klassiker To Kill A Mockingbird (deutsch „Wer die Nachtigall stört“) vielfach in der Schule gelesen und sind jetzt vermutlich erschüttert darüber - das wurde schon in den Vorankündigungen
und Kritiken, die in den ersten Tagen herauskamen, deutlich - dass sich in diesem Buch ein klaffender Riss auftut. Er teilt die
Hauptfigur des Atticus Finch einerseits in den strahlenden Gerechten aus Mockingbird, der einen zu Unrecht
verfolgten Schwarzen mutig verteidigt, und andererseits in den erbärmlichen
Feigling aus Watchman, der heimlich zu Treffen des Ku-Klux-Klan
gegangen ist, um seine weiße Rasse als vermeintliche Herren der Südstaaten an
der Macht zu erhalten.
Dies schreibe ich mit der Absicht, zunächst einmal meinen
muslimischen Freunden näher zu erklären, was es mit dem besagten Lied Amazing Grace auf sich hat. Der amerikanische Präsident Obama hat es am
vergangenen Freitag auf der Trauerfeier für die Mordopfer von Charleston am Ende
seiner Rede gesungen.
Amazing
grace, how sweet the sound,
That saved a wretch like me!
I once was lost, but now I am found,
Was blind, but now I see.
Ich füge weitere Strophen unten an. Das Lied hat eine
einfache, aus nur fünf Tönen bestehende Melodie und spricht von dem
überwältigenden Gefühl einer Rettung durch Gott. Verloren – aber nun gefunden,
blind gewesen - und jetzt sehend, eine durch und durch verdorbene Existenz („a
wretch“, ein Schurke) - aber jetzt gerettet.
Dieses amerikanische Lied (laut Wikipedia 1748 vom Kapitän
eines Sklavenschiffs verfasst, der aus Seenot gerettet wurde und später ein
Gegner der Sklaverei wurde) wird auch in deutschen Kirchen gesungen, hier aber meist
sehr viel zurückhaltender als in den emotionalen schwarzen Kirchen der
Vereinigten Staaten. Ein mir persönlich bekannter Wuppertaler Pfarrer* hat das
Lied ins Deutsche übersetzt und mir einmal gesagt, er wundere sich immer, wenn
die Deutschen solche und ähnliche Lieder in Englisch singen. Sie sind in dieser
Sprache bereit, sich in sehr viel emotionaleren Worten auszudrücken als im
Deutschen.
Hätte George Bush dieses Lied nach dem 11. September 2001 ebenfalls
anstimmen sollen? Ein verwegener Gedanke! Es ist ja eine versöhnliche
Botschaft darin, ein vollständiger Verzicht auf Rache. Obama
hat gesagt, der weiße Attentäter hätte einen Rassenkrieg anstiften wollen,
aber – God has different ideas – eine
göttliche Vorsehung habe das genaue Gegenteil bewirkt, nämlich einen großen
Aufruf zur Versöhnung zwischen den nach wie vor unter Spannung stehenden Rassen
in den Vereinigten Staaten.
Nun war in Charleston im Unterschied zum Anschlag auf das
World Trade Center in 2001 eine genau definierte Gruppe von Menschen betroffen:
schwarze Christen, zudem sehr frommen Menschen. In der Regel haben nur die
frommen unter den sonntäglichen Kirchgängern außerdem noch die Sitte, sich auch
in der Woche zu einem Bibelkreis zu versammeln. Das Attentat auf diese Leute
war etwa so, als habe man eine Sohbet-Veranstaltung der Hizmet-Bewegung
angegriffen, einen Hauskreis, einen Gesprächskreis gleichgesinnter gläubiger
Menschen.
Ganz anders als im New York von 2001 hatten nun aber die Angehörigen
der Ermordeten wenige Stunden nach der Tat vor Gericht in einem bewegenden Auftritt
dem Täter ins Gesicht erklärt, sie würden ihm seine Tat vergeben.
Ohne diese
Vergebung wäre es nicht möglich gewesen, dass nun auch Präsident Obama von grace, von Gnade gesprochen hat.
Solche Voraussetzungen hatte Präsident Bush 2001 selbstverständlich
nicht. Er musste reagieren, musste fordern. Nun hat Präsident Obama allerdings ebenfalls
gefordert: er hat die rassistischen Feinde der neun Mordopfer von Charleston
aufgefordert, ihre Waffen niederzulegen. Er hat Worte gegen den Hass und gegen die
allgemeine Bewaffnung der Bürger in den Vereinigten Staaten gefunden.
Man weiß, dass er hier sehr vorsichtig sein muss, weil es
nach wie vor eine breite Grundstimmung in der Bevölkerung gibt, die das Tragen
von Waffen zum freien Grundrecht aller Bürger macht.. Er hat deutliche Worte
zum Einschränkung dieser Freiheit gesprochen und zu einer Annahme der erstaunlichen Gnade hinein in alle
Bereiche des gesellschaftlichen Lebens.
Zum Schluss hat er die Namen der neun Mordopfer noch einmal
laut ausgerufen und nach jedem Namen angefügt,"...hat diese Gnade gefunden", ... found that grace. Er hat die ermordeten Menschen dann der Gnade
anbefohlen, die sie jetzt nach Hause bringen wird . Im Lied heißt es grace will lead me home.
Und er hat am Schluss sein ganzes Land dieser Gnade anbefohlen,
damit es - und hier hat er eine Pause gemacht und das folgende Wort besonders
betont - Vereinigte Staaten von
Amerika bleiben.
Alles das hätte Bush nicht sagen können. Aber dass es gesagt
werden kann, mitten hinein in eine Welt, in der die Ungnade jeden Tag zu siegen
scheint, ist ein Triumph der Hoffnung.
Amazing
grace, how sweet the sound,
That saved a wretch like me!
I once was lost, but now I am found,
Was blind, but now I see
'Twas grace
that taught my heart to fear,
And grace my fears relieved;
How precious did that grace appear,
The hour I first believed! Through
many dangers, toils and snares,
I have already come;
'Twas grace that brought me safe thus far,
And grace will lead me home.
* Übertragung von Klaus Haacker:
O Wunder der Barmherzigkeit,
du Licht in meiner Nacht!
Ich war verirrt, dem Tod geweiht,
du hast mich heimgebracht.
Die Gnade hat mich aufgeschreckt
aus falscher Sicherheit,
den Glauben dann in mir geweckt,
aus aller Angst befreit.
In Nöten, Mühsal und Gefahr
hat Gnade mich bewahrt;
ich weiß, sie führt mich wunderbar
bis hin zur letzten Fahrt.
Bei der Verleihung der Ehrendoktorwürde an Angelika Neuwirth hat der Basler Kirchengeschichtler Martin Wallraff ihr Buch Der Koran als Text der Spätantike als eines der Bücher bezeichnet, die nur alle hundert Jahre einmal geschrieben werden. Frau Neuwirth hat sich mit einem Vortrag bedankt, den sie dann später zu einem 116 Seiten starken Buch erweitert hat, das vor einigen Monaten unter dem Titel erschienen ist Koranforschung – eine politische Philologie.
Die Frage,
ob man Gottes Gnade nur durch gute Werke gewinnen kann oder nur durch den
Glauben, spaltet die Christenheit in zwei große Gruppen: die Katholiken und die
Protestanten. Für die Muslime unter meinen Lesern muss ich vielleicht
erläuternd sagen, dass der Reformator Martin Luther (1483-1546) als junger
Mönch in seinem Herzen von der Frage bewegt war "Wie finde ich einen
gnädigen Gott?" Er hat eine radikal einseitige Antwort gefunden: "Allein
durch den Glauben". Damit hat er sich von der „Werkgerechtigkeit“
abgesetzt, die er damals in seiner alten katholischen Kirche vorfand und gegen
die er fortan in scharfen Worten gepredigt hat.
Nein, Charles Taylor hat selbstverständlich nicht über Mission gesprochen. Aber
er hat für mich einen gedanklichen Weg geöffnet, den mir sein Buch nach meinem –
vermutlich falschen – Eindruck verbaut hatte. In „A Secular Age“ hatte er den
Rückgang christlichen Lebens in einem paradoxen Gedankengang darauf zurückgeführt, dass der christliche Glaube
in vielen Lebensbereichen überaus erfolgreich gewesen ist. Er war so
erfolgreich in der Schaffung einer Gesellschaft, in der sich gute Lebenskonzepte verwirklichen ließen, dass die Menschen annehmen konnten, auch alleine und ohne den Glauben an Gott mit
ihrem Leben zurecht zu kommen. Für sie waren ja die aus christlichen
Traditionen stammenden Gerüste und Strukturen für ein gelingendes Leben in
vielfältiger Weise vorhanden.
Charles
Taylor muss an diesem Abend um seine Worte ringen, denn er redet Deutsch. Ähnlich wird
es sich angehört haben, als Hegel mit seiner schweren schwäbischen Zunge den
schnellen Preußen in Berlin sein Weltsystem erklärte. Nur dass Charles
Taylor nicht durch eine wirklich schwere Zunge gehindert wird. Er wuchs, 1931
in Kanada geboren, zweisprachig auf (englisch und französisch) und spricht ein
sehr gutes Deutsch, in dem er allerdings immer ein wenig herumkramen muss, um
das jeweils richtige Wort zu finden. In seinen englischen Büchern zitiert er
die deutschen Quellen vielfach im Original, und man stellt sich gerne vor, dass
er die Schriften von Immanuel Kant flüssiger lesen kann als eine deutsche
Tageszeitung.
In einem vor
wenigen Wochen herausgekommenen Buch von
Colm Tóibín fand ich einen Hinweis auf den englischen Dichter George
Herbert (1593-1633), dessen absolute "Natürlichkeit des Tonfalls" für
seine amerikanische Dichterkollegin Elizabeth Bishop (1911-1979) der
"wichtigste und dauerhafteste Einfluss" auf ihr eigenes Werk war, wie
sie schreibt.
Kim Strübind gewidmet, der dieses Lied seiner kleinen
Tochter beigebracht hat
Mein Vater
Ich sehe meinen Vater vor mir, wie er nach dem Abendessen
seinen fünf halbwüchsigen Kindern noch einmal einen grundsätzlichen Gedanken mitteilt.
Mein Vater liebte grundsätzliche Gedanken, und er liebte sie besonders, wenn
sie von ihm selbst stammten und er sie vor einem größeren Kreis von Zuhörern vortragen
konnte.
Selten bin
ich beim Betreten einer Kirche so verzaubert worden, wie in dieser Kathedrale
am Meer! Man betritt sie von Norden her und sieht deshalb als erstes die lange
Südwand vor sich mit ihrer Vielzahl von warm funkelnden Kirchenfenstern, die
das Licht des Mittelmeers im Innenraum der Kirche schweben lassen. Seine Farben
werden aufgenommen von den hellen Steinen, aus denen das Gebäude errichtet ist
und werden noch einmal besonders dadurch verstärkt, dass eine Vielzahl von
großen Rundfenstern sozusagen von den Querseiten her das ganze beleuchtet.
Warum mag ich diese kurz nach der französischen Revolution geborene Früh-Emanzipierte George Sand, die eigentlich Amantine de Francueil hieß und den sächsischen König August den Starken in ihrer Ahnenreihe hatte, so wenig leiden? Sie hat über ihren Winter auf Mallorca ein Buch geschrieben, das hier in Valldemossa an jeder Ecke zu kaufen ist. 1838/9 ist sie für drei Monate mit Frederik Chopin auf der Insel und längere Zeit in Valldemossa gewesen und hat in ihren Beschreibungen von Land und Leuten kaum ein gutes Haar an den Verhältnissen hier gelassen. Dass die Mallorquiner sich mit dem Verkauf des Buches einen schlechten Ruf machen und gleichzeitig gutes Geld verdienen, hat vermutlich den Charakter des Inselvolkes tief geprägt.
Vor vielen Jahren habe ich einmal einen Camembert gegessen, der mir als der beste erschien, der mir jemals in meinem Leben vorgesetzt wurde. Das war bei Freunden in Paris Als ich wenige Wochen später den Camembert der genau gleichen Marke in Deutschland kaufte, war er um Klassen schlechter.
Ernst Jünger hat gesagt, dass die wichtigsten Begegnungen sich oft dann ergeben, wenn man fremde Leute einfach auf offener Straße anspricht. Tief in meinem Herzen wünsche ich mir solche Begegnungen herbei und bin deshalb auch immer recht forsch, wenn es darum geht, mit fremden Menschen in ein Gespräch zu kommen.
Am Eingang des Wegenetzes, das die auf ihrer Nordseite steil zum Meer abfallende Hochebene des Pla des Pouet erschließt, steht ein hölzernes Wachhäuschen. Vor ihm stehend erwarten uns zwei oliv gekleidete Männer, die ich zunächst für Soldaten halte. Hablas alemán? fragt der erste, ein Mann mit einem schwarzen Bart, und als wir bejahen, weist er uns mit einer kurzen Kopfbewegung weiter zu seinem blonden Kollegen. Der ist ein freundlicher Bayer, der uns kurz über sein Anliegen informiert: man will einen Teil des Wandergebietes weitestgehend von Menschen freihalten und dadurch den Lebensraum des Mönchsgeiers vergrößern. Voltor steht auf einem Plakat im Wachhäuschen, voltor negre heißt dieser Geier im Catalanischen, im Spanischen buitre negro.
Wer sich
nicht davon abschrecken lässt, dass der Chor zu Beginn auf dem Bühnenboden
liegt und sich zuckend umherwälzt, wird in Simon Rattles Johannes-Passion in ein hochemotionales Erlebnis geführt, das
am Ende vermutlich keinen Zuhörer unverändert lässt. Die Kraft der Inszenierung
des an einen Punker erinnernden Regisseurs Peter Sellars kommt nach meinem
Eindruck aus der vollkommenen Unbekümmertheit, mit der man an die alten Quellen
herangegangen ist und sie zum Fließen gebracht hat.
Zu den
Dingen, die man kennen muss, um die Vereinigten Staaten von Amerika zu
verstehen, gehört offenbar neben dem Football, der Nationalhymne und der Route
66 auch das Buch "Wer die Nachtigall stört" (To Kill a Mockingbird) der
heute 88jährigen Südstaatenautorin Harper Lee.Das 1960 erschienene und wenig später prominent verfilmte Buch gehört zu
den Klassikern der modernen amerikanischen Literatur. So wurde es 2001 in der
Aktion „Eine Stadt liest ein Buch" über 70.000 mal in Chicago ausgelegt
und gelesen.
Folgt man
Thomas Bauers Kapitel über "Die Ambiguität der Lust“, dann hat die
westliche Kultur sich im Mittelalter ein enges Korsett angelegt, was die Lust
betrifft, und hat es später nicht mehr ablegen können, als nach der Kirche die
Medizin das Thema zu kontrollieren begann. Am Anfang gab es die fromme Spannung
zwischen sündhafter Lust und der kühlen Pflicht zur Fortpflanzung. Später schuf
die Medizin mit ihrer „Deutungshoheit über das, was ‚Sexualität‘ hieß“ neue
Spannungen. Bauer blickt kritisch vom Osten aus auf den Westen und meldet Zweifel
an, ob es einen geschlossenen Bereich der menschlichen Natur, der
"Sexualität" heißt, überhaupt gibt. Er schreibt dazu:
Eine erste Lehre aus der Lektüre des schönen Buches vonThomas Bauer ist die, dass jede Übersetzung aus einem ursprünglichen Text immer
wieder an Stellen kommt, wo man eine in den Text schneidende Entscheidung treffen, ein weitgreifendes Urteil fällen
muss.
Für die Muslime des Mittelalters war klar: jede Übersetzung
aus dem Arabischen war ein urteilender Kommentar. Sie gab vor, eine bestimmte
Stelle verstanden zu haben, und zwar auf die Weise, wie sie in der neuen Sprache
zu verstehen war. Einen Kommentar zum Koran zu erstellen war zunächst einmal aber
eine sehr kunstvolle und abwägende Sache, wie es Thomas Bauer anhand der
Kommentierung von Q 5:3 Euchist Verendetes verboten aufzeigt. In vielen
kleinen Schritten wird zu dieser Stelle die Frage geklärt, ob man denn etwa die
Haut von verendeten Tieren zur Erzeugung von Leder benutzen darf oder nicht.
Ist die Vorstellung erlaubt, dass Gott redet und dass sein Reden bei den
Menschen nicht eindeutig ankommt? Das schöne Buch, in dem ich gerade lese,
plädiert recht leidenschaftlich für diese Möglichkeit. Es lobt die Uneindeutigkeit und spricht dafür, dass wir in
unserem Verständnis des Redens Gottes eine gewisse Unschärfe zulassen. Der
Verfasser zeigt anhand der Lehre islamischer Schriftsteller des
Mittelalters, dass es Perioden gegeben hat, in denen die Menschen es für
einen Vorteil ansahen, von Gottes Worten mehrere Lesarten zu besitzen.
Eine Gnade für die Gemeinde seien Varianten im Korantext, sagt ein
damals in hohem Ansehen stehender Kommentar (hadith) zum Koran. Erst die viel
später einsetzende Aufklärung mit ihrer präzisen Frage nach dem wörtlichen Sinn
eines Textes und ihrer Quellenforschung ("Was steht im Urtext?") habe
es uns im Prinzip verleidet, eine Uneindeutigkeit zu akzeptieren. Das gilt
übrigens für weite Bereiche der islamischen Forschung ebenso wie für uns. Die
Aufklärung ist nicht nur bei uns angekommen.
Als am 21.
Dezember Udo Jürgens starb, habe ich ein altes Songbook aus dem Keller geholt
und einige seiner Lieder noch einmal gespielt. Mit 66 Jahren (da fängt das
Leben an) war nicht dabei, es ist 1977 in einer Zeit erschienen, als ich andere Sänger interessanter fand als Udo Jürgens. Außerdem erinnere ich mich
noch, dass mir das Lied nie gefallen hat. Mir war schon damals klar: mit 66
fängt das Leben nicht an, es fängt wohl eher an aufzuhören. Heute, an dem Tag,
an dem ich 66 Jahre alt werde, sehe ich das noch deutlicher.
Die Kirche
von Pastor Mike habe ich wenige Tage vor Weihnachten in einem Artikel der NewYork Times gefunden. Seine Baptistengemeinde in Harlem ist offenbar eine der
wenigen Kirchen, welche die alte Segregation der Rassen dadurch aufheben, dass sie
weiße Besucher in traditionell schwarze Gottesdienste einladen. Umgekehrt ist
es offenbar leichter und mittlerweile auch nicht mehr ungewöhnlich – viele Schwarze besuchen weiße
Gottesdienste – aber das Modell der Kirche von Pastor Mike – Reverend Michael
A. Walrond Jr. mit vollem Namen und Titel – in Harlem ist etwas Besonderes. Es lebt von einem
demografischen Umbruch in seinem Stadtviertel, der sich seit längerem vollzieht, und der ein einstmals
heruntergekommenes Quartier wieder nach und nach attraktiv macht. Eine junge
und wohlhabende Klientel zieht nach Harlem und nutzt den Vorteil, kurze Wege zu
den Büros in Manhattan zu haben.
Auf die Spur
zur Onnuri Kirche bin ich durch eine junge Koreanerin gekommen, die in Deutschland lebt. Sie hat
mit ihrem Mann einige Zeit in Afrika gearbeitet, um
dort den Dialekt eines Stammes zu erlernen, für den später
eine Bibelübersetzung entstehen soll. Als es in dem Land politische Unruhen gab, zog man ins Rheinland, weil hier eine
größere Gruppe von Stammesangehörigen lebt, die man für eine Zusammenarbeit zu gewinnen hofft.